Der Berner Nonkonformismus und seine Dokumentation

«In Bern hat ‘1968’ 1955 begonnen». So lautet der Titel meines Beitrags für den «Bund» vom 5. Juni 1993. Bevor ich mir diese kecke Behauptung erlaubt habe, habe ich allerdings ein ganzes Jahr lang recherchiert.

Das kam so: Am 4. Mai 1991 lud mich der Schriftsteller Beat Sterchi ein, mit ihm zusammen eine Gedenkveranstaltung für den Gammlerpoeten René E. Mueller zu besuchen, der am 6. Februar zuvor im südindischen Kovalam gestorben war. Der Abend bot mit verschiedenen Referaten und mit vielen Bild- und Tondokumenten einen inspirierenden Einblick in das subkulturelle Leben von Berns Altstadtkellern der 1960er Jahre. An diesem Abend entstand im Gespräch mit Sterchi die Idee, die Geschichte dieser Subkultur aufzuarbeiten – auch um zu verstehen, auf welchem kulturpolitischen Boden in Bern die 68er-Bewegung stand.

«Das Projekt NONkONFORM»

Ich machte mich an die Arbeit. Stadt und Kanton Bern sowie die Pro Helvetia unterstützten das «Projekt NONkONFORM», wie ich es nannte, mit Werkbeiträgen. So nahm ich als Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) einen unbezahlten Urlaub und begann ab Mai 1992 ein Jahr lang intensiv zu recherchieren. Bereits am 4. Mai schrieb ich ein erstes Arbeitspapier mit dem Titel «Warum NONkONFORM?», das mir in der kommenden Zeit als Kompass dienen sollte. Die zwei zentral gewordenen Thesen darin lauten:

«• NONkONFORM will mündliche und schriftliche Quellen sichern und dokumentieren. Das Projekt will verhindern, dass das quere, reiche und aufmüpfige (sub)kulturelle Leben im Bern der 60er Jahre dereinst zur Fussnote einer akademischen Kulturgeschichte des offiziellen Bern zusammenschrumpft.

• NONkONFORM will durch die Darstellung einer bereits Geschichte gewordenen Zeit Berns die Nachgeborenen dazu ermutigen, das Erbe dieser Zeit zu studieren und die Nonkonformität als Strategie gegen das versteinerte Bern weiterhin lebendig zu halten.»

Am 24. Mai 1992 rief ich den Schriftsteller Kurt Marti an und bat ihn um Rat, wo ich aus seiner Sicht bei der Recherche die Schwerpunkte setzen solle. Als erstes antwortete er: Beginnen solle ich am besten bei Fritz Jean Begert und seinem «Kerzenkreis». Diese Antwort ist mir unvergesslich, weil ich in diesem Moment Begerts Namen zum ersten Mal bewusst zur Kenntnis genommen habe.

Die beiden Bücher zur Berner Subkultur

Nach einem Jahr hatte ich mehrere Laufmeter schriftlicher Quellen zusammengetragen und archiviert sowie viele Dutzend Gespräche mit Aktivisten und Zeitzeugen geführt, mit Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Im Mai 1993 nahm ich meine Arbeit als Zeitungsredaktor wieder auf, allerdings nur zu 60 Prozent. So blieb Zeit, die NONkONFORM-Arbeit relativ kontinuierlich fortzuführen.

Klar war unterdessen, dass ich die Geschichte von der Gründung des «Kerzenkreises» im März 1955 bis zur Schliessung des Diskussionskellers «Junkere 37» im Frühling 1970 schreiben wollte. Und klar war auch, dass diese Geschichte aus drei Aufbrüchen bestehen würde: einem reformpädagogischen bis etwa 1960, einem literarischen bis etwa 1965 und einen politischen. Jedem dieser Aufbrüche wollte ich ein ganzes Buch widmen.

1996 erschien im Rotpunktverlag unter dem Titel «Begerts letzte Lektion» die Darstellung des reformpädagogischen Aufbruchs. Beim anschliessenden Versuch, den literarischen und den politischen Aufbruch auseinander zu dröseln, wurde klar, dass eine solche Trennung nicht sinnvoll wäre: Die gleichen Leute, die in den frühen sechziger Jahren schöngeistiger Dichtkunst frönten, entwickelten sich später zu politisch aktiven Nonkonformisten. Deshalb schrieb ich mit «Muellers Weg ins Paradies» (2001) nur noch einen Band (der im Vergleich zum Begert-Buch allerdings doppelt so dick geworden ist).

Das Archiv im SLA

Damit war die publizistische Arbeit getan, allerdings noch nicht die archivarische. Hier kam mir Thomas Feitknecht als Leiter des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA) zu Hilfe. Er bot mir 2001 an, die NONkONFORM-Materialiensammlung gegen eine Spesenpauschale zu übernehmen.

Unterdessen hat der SLA-Archivar Lukas Dettwiler das Material in 61 Archivschachteln geordnet und in einem elektronischen Inventar öffentlich zugänglich gemacht. Ergänzt wird die NONkONFORM-Sammlung des SLA unterdessen durch den Nachlass des Junkere 37-Aktivisten Zeno Zürcher. Zudem finden sich in der elektronischen Textwerkstatt des Schreibenden online neben PDF’s der beiden Bücher auch eine repräsentative Sammlung von NONkONFORM-Konzeptpapieren, Zeitungsartikeln, Berichten und Referaten.

Im SLA wird mit dem Material unterdessen gearbeitet: Als Herausgeber des letzthin erschienenen Buchs «Rebellion unter Laubenbögen» (Zytglogge 2017) hat zum Beispiel Georg Weber dem Diskussionskeller «Junkere 37» ein grosses Kapitel gewidmet und dafür laut Fussnoten auch im «Nonkonformismusarchiv (SLA)» recherchiert.

Die Stimmen verstummen nicht

Mich freut das für die Aktivisten, insbesondere für Ueli Baumgartner (1937-2000), Sergius Golowin (1930-2006), Zeno Zürcher (1936-2008) und Walter Zürcher (1934-2007). Unsere vielen, stundenlangen Gespräche und all die Dokumente aus ihren Privatarchiven haben «NONkONFORM» erst möglich gemacht. Alle Transkriptionen unserer Gespräche liegen heute im SLA.

In ihnen zu lesen, lohnt sich weiterhin. Denn 1968 bestand – auch in Bern – nicht nur aus der studentischen Forderung nach einer utopischen, antiautoritär-sozialistischen Revolution, die danach nirgends stattgefunden hat. 1968 steht – nicht nur in Bern – auch für eine gelungene Revolutionierung der Lebenswelt. Dafür waren in Bern die nonkonformistischen Altstadtkeller so wichtig wie die Universität.

Die Ausgabe Nr. 21/2018 von Passim findet sich hier (mein Beitrag S. 4).

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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