Das «Kunstwerk Nein»

Der «Kulturboykott 700» will in die Realpolitik

Etwa zwanzig MitunterzeichnerInnen des «Kulturboykotts 700» haben an ihrer Vollversammlung vom 7. Dezember in Zürich beschlossen, «weitere kunstvolle Taten folgen zu lassen». Insbesondere soll sichergestellt werden, «dass die Erklärung ‘Wir boykottieren jegliche kulturelle Mitarbeit bei sämtlichen Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft’ von der offiziellen Seite respektiert und nicht unterlaufen wird, etwa durch Filmaufführungen, Buchausstellungen im Rahmen der offiziellen Feier oder unbewilligte Verwendung anderer Werke von Kunstschaffenden, die die Erklärung unterzeichnet haben.» Aus dem bisherigen «Kulturboykott-Komitee» sind Dres Balmer und der Schreibende zurückgetreten, neu dazugekommen sind die Kulturveranstalterin Rosmarie Flüeler, der Publizist Peter Kamber und der Schriftsteller H. U. Müller.

An einem Vorbereitungstreffen des Komitees habe ich beantragt, an dieser Vollversammlung den «Kulturboykott 700» zum abgeschlossenen, kollektiven Kunstwerk zu erklären und seine Infrastruktur – 1 Komitee, 1 Postfach und 1 Postcheckkonto - als «Gerüst», das seiner Errichtung notwendig gewesen ist, aufzulösen. Das Komitee befürchtete jedoch, ein solches Vorgehen könnte als Auflösung des Boykotts interpretiert werden, die Auflösung der Infrastruktur sei gar zu «negativ», und darüber hinaus sei es wichtig, auch 1991 als «Kulturboykott 700» noch ansprechbar zu sein.

Sicher ist: Die Boykottdiskussion ist geführt, die Positionen sind bezogen. Ich meine, damit hat der «Kulturboykott 700» seine Aufgabe erfüllt. Andere haben an der Vollversammlung nach neuen Perspektiven gesucht. Was zusammenkam, waren Wunschträume: Telefonisch schlug Gerold Späth vor, als nächstes eine «Akademie der schönen Künste» auf die Beine zu stellen, auch das «Haus der Künste» (siehe WoZ Nr. 45/1990) wurde wieder erwähnt; vorgeschlagen wurde, die Boykottbewegung zu regionalisieren, ein «Fest der Boykottierenden» ins Auge zu fassen, den Kontakt zum Komitee «700 Jahre sind genug» herzustellen etc. Tatsache ist, dass sich die Vollversammlung nicht auf eine zündende Idee hat einigen können.

Spätestens seit dem «Kultursymposium 1990», wo vieles möglich gewesen wäre und wenig passiert ist, kann man wissen: Die grossen kulturpolitischen Organisationen – inklusive der Gruppe Olten, die neben der WoZ die Lancierung des Boykotts getragen hat – setzten sich zwar zum Teil intensiv mit der Boykottfrage auseinander, aber den «Kulturboykott 700» als kulturpolitischen Faktor haben sie ignoriert, er ist völlig isoliert geblieben. Daraus könnte man lernen: Wer einen Akt grundsätzlicher kultureller Dissidenz zum Programm erklärt, kann in einem Land nicht salonfähig sein, in dem die Geldbeschaffungsbemühungen farbloser Kulturverbandsfunktionäre die einzige konsensfähige kulturpolitische Perspektive bilden. Ich befürchte deshalb, dass, wer den «Kulturboykott 700» über das Nein zur interkantonalen Solarität hinaustragen will, ins Leere laufen wird. Darüber hinaus: Sogar wenn es jetzt eine neue zündende Idee gäbe – wer könnte sagen, dass sie von der Basis der 500 mitgetragen würde? Die Aufgabe des neugebildeten Kulturboykott-Komitees wird sehr schwierig sein.

Der «Kulturboykott 700» war schöner Schein von Widerstand. Als solcher hat er eine erstaunliche Wirkung getan. Diese macht ihn aber auch im nachhinein nicht zum kulturpolitischen Faktor. Der «Kulturboykott 700» ist ein Kunstwerk, bestehend aus der Boykottformulierung und 500 Unterschriften. Der Versuch, ihn nun mit neuen Zielvorgaben weiterzuführen, wird ihn zwangsläufig mit seiner realpolitischen Marginalität konfrontieren.

Fredi Lerch, alt Kulturboykott-Komitee-Mitglied

 

[Replik von Andreas Simmen in: WoZ Nr. 1+2/1991]

Boykott? Jetzt erst recht! 

Jubeljahrbeginn: eifriges Bilanzziehen zum Kulturboykott

Muss man jetzt den Kulturboykott gegen die Boykotteure in Schutz nehmen? Wir haben also wieder einmal mit Schwung angesetzt und sind kläglich auf den Ranzen gefallen? So soll das also sein – «ein schöner Schein von Widerstand», wie Fredi Lerch noch Ende Jahr in dieser Zeitung geschrieben hat? (WoZ 50/1990)

Nachdem das horrende Jubeljahr begonnen hat und alles sich gerade so anlässt, wie man’s erwarten durfte, nämlich überbordend peinlich, wird zum Kulturboykott allenthalben Bilanz gezogen. Andreas Balmer bilanziert in der «SonntagsZeitung» fast unter Ausschluss seines Gedächtnisses, Niklaus Meienberg bricht im «Tages-Anzeiger» in die barlautere Barmherzigkeit aus und will den Mantel derselben über das Kultursymposium vom letzten November (an dem er mit Abwesenheit glänzte) breiten, und auch Nationalrat Kurt Müller zieht Bilanz – über die «Klageweiber-Mentalität mancher Kultur(boykott)-Schaffender». Ein Gerhard iseler schliesslich schämt sich im Leitartikel von «Finanz und Wirtschaft» geradezu für uns – «eine Schande» – und schreibt: «Anstatt stolz zu sein, […] lassen wir uns von einigen Spinnern fast alles vermiesen: Eine Handvoll Kultur- und Kunstschaffender usw.»

Und das ist dann halt die Realität: Bei den Staatstragenden und Staatstreuen ist dieser Boykott das Ärgernis, ein wesentlich grösseres jedenfalls als sein unmittelbarer Anlass, die Fichenaffäre, und dass die Klügern unter ihnen nicht mit dem heiligen Zorn eines Isler auf dieses Ärgernis reagieren, sondern versuchen, die Bewegung zu verunwesentlichen, gehört wohl zu den gebräuchlichsten propagandistischen Kampfmitteln und müsste unsere Gelassenheit nicht weiter anfechten.

Ein propagandistischer Gag ist auch die Behautpung des Duos Büttner/Lienhard im «Tages-Anzeiger»-Interview mit Solari/Meienberg: «Also hat der Boykott nicht funktioniert; er hat einen wichtigen Beitrag geleistet zu eben jenem Anlass, den er zu boykottieren beschloss.» Das ist Unsinn. Und dass Meienberg darauf «Anscheinend» geantwortet haben soll, kann ich eigentlich gar nicht glauben. Tatsache ist doch, dass Solari (wie er im gleichen Interview wieder einmal sagt) gern die sensiblen und kreativen und, wie er anderswo gesagt hat, auch die kritischen Geister dieses Landes in seinem Zirkus vorgeführt hätte, und dass ihm das nicht gelungen ist. Preisfrage: Wer kann fünf Namen von SchriftstellerInnen nennen, die je 1 einigermassen relevantes Buch geschrieben haben und die an einem der CH-700-Projekte beteiligt sind? Dies nur als Beispiel. Die bedeutenderen KünstlerInnen dieses Landes sind – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – bei der Jubelfeier nicht dabei. Das ist nicht allein auf den Boykott zurückzuführen; manche hatten sich schon vor der Boykott-Erklärung entschlossen, dem Zirkus fernzubleiben – als individuelle Protest-Geste. Der Boykott hat dann den Protest entindividualisiert und zu einem allgemeinen, unüberhörbaren, also öffentlichen Protest gemacht.

Der Boykott ist zustandegekommen; er ist eine Tatsache. Was jetzt im Gang ist, gehört ins Kapitel Hegemonie der Meinungen; der Versuch bzw. die Fortsetzung des Versuches fast aller KommentarorInnen der bürgerlichen Presse, die politische

Bedeutung dieses Boykotts zu minimalisieren. Noch eine Preisfrage: Weshalb mag das denen denn ein solches Anliegen sein?

Das neueste Kapitel hat nun Christian Rentsch geliefert, indem er im «Tages-Anzeiger» vom 9. Januar eine SDA-Meldung kommentiert, wonach die Gruppe Olten einen Brief an Bundesrat Cotti geschrieben haben soll. In diesem Brief habe die Gruppe von Cotti eine «symbolische Geste» verlangt, die es den boykottierenden SchriftstellerInnen erlaube, «auf die Boykottdrohung» zurückzukommen bzw. in den Schoss der 700-Jahr-Feier zurückzukehren. «Ein Trauerspiel jämmerlicher Helden», kommentiert Rentsch völlig zu Recht, das mache nun die nicht richtig gedachte, aber ehrenwerte Aktion nachträglich zur Farce. Wohlgesprochen, könnte man da nur sagen – wenn denn die Sache auch noch stimmen würde. Leider stimmt sie nicht. Leider wissen weder der Sekretär noch der Präsident der Gruppe Olten etwas davon und beruht das ganz einfach auf einem kleinen Übersetzungsfehler der SDA. In der ursprünglich auf französisch verfassten Meldung heisst es nämlich – und dies entspricht dem wirklichen Sachverhalt –, dass der für das Literaturfest im Jura (Literaturteil der 700-Jahr-Feier) zuständige Jean Marie Möckli diesen Brief geschrieben hat. Und das hat er getan, weil (siehe oben) fast keine namhaften SchriftstellerInnen an seinem Fest teilnehmen. Also, lieber Rentsch, alles wieder zurücknehmen, nochmal versuchen. Nach deinem nicht richtig gedachten, aber ehrenwerten Essay zum Kulturboykott im letzten Sommer war das nun journalistisch nicht mehr ehrenwert:Ein einziges Telefon hätte genügt, um festzustellen,dass es um den Kulturboykott eben nicht so steht, wie du so gern gehabt hättest.

Während Möckli im Juras von allen guten SchriftstellerInnen verlassen ist, hat Solari für die grosse Eröffnungszeremonie im Botta-Zelt zu Bellinzona (am 10. Januar – nach Redaktionsschluss) die wirklichen Geister des Landes zu vereinigen vermocht. Zum Beispiel wird in der fünften Reihe neben Harald Szeemann das bekannte Ehepaar Elisabeth und Hans W. Kopp sitzen. Wir FernsehguckerInnen werden allerdings keine Gelegenheit haben, das mit eigenen Augen zu sehen, denn die Kameraleute des Fernsehens DRS haben intern die Weisung erhalten, diese sensible Stelle säuberlich zu umgehen. Ob das dem Szeemann gefallen wird?

Unter den Teppich kehren, was propagandistisch nicht passt, das ist das eine. Frisch von der Leber weg lügen, wenn’s propagandistisch nützlich erscheint, das andere. Und so begann dieses Jubeljahr. Im Rahmen der 700-Jahr-Feier kommt ein umfassendes «Schweizer Lexikon 91» heraus. Dieses sei nur möglich geworden, «weil sich die Schweizer Intelligenz geschlossen hinter dieses Jahrhundertwerk gestellt hat». Ob sich Niklaus Meienberg auch geschlossen gestellt hat? Und Andreas Balmer? Laure Wyss? Adolf Muschg? Max Frisch? Arnold Künzli? Hans Saner? Isolde Schaad?

Nein, der Boykott ist nicht am Ende. Es sei denn, die Boykotteure pflegen die falsche Skepsis, nämlich diejenige, die auf einem Mangel an Informiertheit beruht.

Ich danke Andreas Simmen für sein Einverständnis mit dieser Wiederveröffentlichung (31.10.2013). 

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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