Das AKZ auf der Schützenmatte

durch nebel und nieselregen ging ich in meiner dünnen plastikjacke das bollwerk hinunter. auf der eisenbahnbrücke drüben schrie ein ausfahrender schnellzug. obschon es erst knapp nach drei uhr nachmittags war, fuhr die endlose kolonne der elektromobile bereits mit abblendlicht. ich erreichte das gelände des AKZ’s beim einen der beiden fünf meter hohen wachtürme. hinter den grossen scheiben aus kugelsicherem glas im warm erleuchteten auslug oben standen plaudernd zwei uniformierte. als ich dem fast drei meter hohen doppelten stacheldrahtverhau richtung lorrainebrücke entlang zu gegen begann, spürte ich angst. «drüben» regte sich an diesem novembernachmittag nichts. nur weiter hinten, unter der eisenbahnbrücke, sah ich den schein eines feuers. dann erreichte ich vorne, fast an der schützenmattstrasse, nahe beim zweiten wachturm, die kleine öffnung im verhau.

in den gedeckten unterständen zu beiden seiten des durchschlupfs standen je zwei schwerbewaffnete uniformierte. vereinzelte gesprächsfetzen hingen als kleine wolken vor ihren mündern. sie schienen mich nicht zu beachten. der durchschlupf war so eng, dass nicht zwei personen nebeneinander passieren konnten. stacheldrahtrollen säumten ihn etwa zehn meter in die tiefe. dahinter, «drüben», erkannte ich einen weiteren unterstand. ich zögerte. als ich richtung bahnhof zurückschaute, näherten sich dick vermummt zwei patrouillierende uniformierte. langsam ging ich vorwärts. niemand hielt mich. oben in den geleisen schrie wieder ein zug. in diesem augenblick wurde es in meinem rücken hell. hinter mir flimmerten die lichtreklamen auf an den himmelhohen fassaden. ich folgte meinem schatten. dann war ich drüben.

*

«hesch dr’s guet überleit?»

aus dem unterstand löste sich eine graue gestalt in nassdunklem regenmantel und grossem schlapphut im gesicht. ich nickte unbestimmt, dachte flüchtig an den tobenden vater, an die weinende mutter am küchentisch. «di sach», sagte der graue, «aber use chunnsch nüm so ring wi ine.» ich nickte noch einmal. er trat in den unterstand zurück. als ich weiterging, rief er mir nach: «muesch di dehing bim nero mäude. sigsch nöi. är söu dr e frässcharte und wett wosch e giftcharte gää. do druf hesch aarächt.»

*

durch den dichter werdenden nebel stolperte ich entlang von nesselfeldern, mannshohem gesträuch und zu kleinen hügeln aufgeschichteten vermoosten teerbrocken. der boden war sandig. unter der eisenbahnbrücke drängten sich aus wellblech und brettern zusammengenagelte hütten. dazwischen brannte ein grosses feuer, worum sich grau vermummte gestalten stehend wärmten. ich trat näher und hörte eine stimme murmeln: «e nöie».

als ich herumschaute, sprach mich eine junge frau an, die ein erbärmlich hustendes kind an sich drückte: «wett nöi bisch hie, chasch bi üüs penne, bis säuber öppis hesch. mir wohne dert hing.» sie wies mit dem arm ins wachsende düster unter der brücke auf eine der wellblechhütten. «aber itz im novämber cha me doch nüm do uss wohne», sagte ich, «i sueche mr ir ritschue en egge zum schloofe.»

«de muesch mit em nero rede», sagte die frau schnell und blickte mit grossen leeren augen in die flammen. das kind begann wieder zu husten. ein dampfender krug tee wanderte von einer gestalt zur anderen. ich nahm einen schluck und reichte den krug der jungen frau.

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es war fast dunkel, als ich weiterging. im eingang der reitschule, wo ich nero zu finden hoffte, wurde ich von einer kleinen, hin- und hertanzenden gestalt mit fliegenden haaren und bunt zusammengeflickten kleidern aufgehalten, die mich mit weit aufgerissenen, stechenden augen fixierte und dazu sang: «dr meischter schlaaft, dr meischter schlaaft…» unvermittelt fiel die gestalt auf die knie, kreischte auf, presste den kopf in meinen schoss und schluchzte: «ou du chasch’s nid ändere…»

in diesem augenblick löste sich im dunklen hintergrund eine hünenhafte gestalt in ledermontur und brüllte: «knorrli, du huere dräckfutz, verreis, süsch verchlopf dr d’schnure.»

die haarige gestalt huschte mit entsetzter miene wieselflink davon. «blödi chue», sagte der hüne, «frisst kilowiis gift, chunnt überhoupt nüm obenabe und verzeut duurend schissdräck.» dann musterte er mich spöttisch und brummte: «bisch nöi, he? muesch warte. dr nero schlaaft.» danach verzog er sich wieder auf seinen platz an der wand.

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dann trat ich in einen warmen, düsteren raum, in dem an langen tischen dichtgedrängt leute sassen, bier trinkend, viele schweigend, andere gedämpft sich unterhaltend. nach einigem zögern setzte ich mich  auf den freien platz am ende einer langen bank einem hohlwangigen, langhaarigen mann gegenüber, der reglos in die leere starrte. als er plötzlich hysterisch zu lachen begann, schrak ich zusammen. «huersiech», rief er, «hueresiech! scho mee als füf jahr in däm loch… läbeslänglech!…» plötzlich fixierte er mich mit tief liegenden, schwarz umrandeten augen. sein bieratem wehte mir ins gesicht. «bisch ou z’grabe gsy, im sächenachzigi?» als ich den kopf schüttelte, rülpste er und brummte: «jungs gmües!… sit denn bin i do inn… sit grabe… verdami, denn hei mir is no gwehrt… mit auem was mr gha hei, gäg das atomchraftwärch, gäg d’lobby, gäg dä korrupt schtaat… dasch bürgerchrieg gsy… aber mir hei se nid möge pha, die souhüng, wo si hei afa schiesse… em schluss hei mr müesse drvoseckle… und mir hei gwüsst: entwäder diräkt id chischte oder uf d’schütz… ja… und chuum si mr da gsy, heisi afaa dr schtacheldraht usrolle… das weiss i no genau: am drizääten ougschte sächsenachzg… me aus füf jahr sider… hueresiech… i däm outonome konzäntrationslager…» er blickte wieder ins leere und schwieg. dann plötzlich: «und itz? hei si’s itz fertig poue, das wärch?»

ich nickte und sagte: «jo, sit em früelig louft’s.»

«und gwehrt het sech niemer me?» forschte er.

«i weiss’s vo nüt», sagte ich unsicher.

da lachte er wieder hysterisch auf, holte abwesend seine giftkarte aus der tasche, riss eine biermarke heraus und sagte: «gang reich dr es bier.» danach versank er wieder in tiefes schweigen.

*

«dr nero», ging plötzlich ein raunen den tischen entlang. als ich aufblickte, stand in der tür zu den hinteren räumen ein kleiner, bulliger mann, gähnend und sich streckend. zu seinen füssen sass ein grosser schäferhund, spitzte die ohren und blinzelte neugierig ins helle licht. nero überblickte kurz die menge, dann trat er einen schritt vor und brüllte in den raum: «charte!»

dann dreht er sich mit einem «dewot, chumm» auf dem absatz und verschwand mit wuchtigem passgang. an seinen hüften baumelte ein grosses messer. der hund folgte ihm.

mein gegenüber, der aufmerksam geworden war, sagte: «hü, hol dr di razion… und häb sorg…» als ich ihn fragend anschaute, war er schon wieder in seinen gedanken versunken. seine hände zitterten an der bierflasche.

*

ich folgte zögernd einer grösseren schar von leuten, die stossend und ächzend aus den langen bänken drängte in richtung der tür, in der nero verschwunden war. vor einer weiteren tür in einem schwach beleuchteten gang staute sich die schar zu einer langen einerkolonne. weiter vorn standen zwei türwächter in ledermontur und liessen die wartenden einzeln eintreten. langsam rückte ich in der kolonne vor. gesprochen wurde nicht. als ich dann direkt vor der tür zwischen den zwei schweigenden wächtern stand, bemerkte ich, dass sie bewaffnet waren: der eine spielte gedankenverloren mit einem schlagstock, im gürtel des andern steckte ein revolver.

dann flog die tür auf, ich wurde von hinten geschoben, trat stolpernd in blendendes licht, während hinter mir schon die tür ins schloss fiel. «aha, e nöie», hörte ich eine stimme, offenbar die neros, während ich durch abdecken meiner augen erfolglos versuchte, den sprecher hinter der grellen lichtquelle zu entdecken. an meiner rechten hand fühlte ich die schnuppernde schnauze des hundes.

«wi heissisch?» fragte er. ich nannte einen namen.

«bruuchsch gift?» fragte er weiter und als ich den kopf schüttelte, brummte er: «de bhauten i di charte bi mir… do hesch di frässcharte.» durch das licht reichte mir eine hand eine perforierte halbkartonkarte. als ich mich zum gehen wandte, sagte er leise, wie nebenbei: «no öppis. was isch dr lieber, do inne z’überwintere oder duss unger dr isebahnbrügg?»

ich schluckte und sagte: «do inn.»

«so?», fuhr er fort, «los itz, schnuderbueb, wär do inn überwinteret, dä schaffet ou und was gschaffet wird, beschtimmen ig. isch das klar?»

ich nickte.

«wett das tschegget hesch, isch’s okee und süch flüggsch innert chürze use. froge?»

«jo», sagte ich und nahm meinen ganzen mut zusammen: «wär zaut das züg aus, ässe, trinke, gift?»

mein gegenüber brüllte auf vor lachen, verstummte plötzlich und sagte leise und sachlich: «betriebskredit vor schtadt. dr iichouf psorgen ig, wüu süsch kene fähig isch, klar? süsch no öppis?»

ich schüttelte den kopf, tastete nach der türfalle. als ich durch den düsteren gang zurückging, schmerzten meine flimmernden augen.

*

mit meiner fresskarte hatte ich mir an der theke ein abendessen, reiseintopf mit etwas gemüse, und eine flasche bier geholt und mich an einen leeren platz in der beiz gezwängt, als einer in nassgrauem regenmantel und schwarzem schlapphut an meinen tisch trat und mich sofort ansprach: «hesch dr’s überleit? chunnsch zu üs use cho wohne?» als ich ihn fragend anschaute und ihn jetzt als jenen erkannte, dem ich im unterstand beim eingang begegnet war, fuhr er fort: «d’trix het di dä namittag duss am füür iiglade, bi üs z’wohne, bis säuber öppis heigsch.» ich erinnerte mich an die junge frau mit dem hustenden kind und nickte. der andere setzte sich mit dem rücken zur tischplatte direkt neben mich auf die bank und erzählte mit gedämpfter stimme, unter seinem schwarzen hut hervor die leute im raum musternd: «i cha dr nid viu verschpräche. dr winter duss isch hert. frässcharte überchömemr zwar, aber d’chuchi git is d’häufti zweni läbesmittel und choche müesse mir sälber uf em füür. s’holz für’s füür müesse mr em nero zahle mit üsne giftcharte.»

an meinem eintopf kauend, sagte ich jetzt: «aber i cha do inn wohne, wenn i mitschaffe, het dr nero geseit.»

in diesem augenblick flog die tür zu den hinteren räumen auf und nero trat wild brüllend ein und trieb mit seinen fäusten den hohlwangigen mann, der mir von graben erzählt hatte, vor sich her. während der hohlwangige keinen versuch machte, sich zu wehren, blieb nero vor der theke breitbeinig stehen und schrie: «los itz, du auti, düregheiti soumoore: gäng gift höische un drzue e dummi schnure ha git’s nid do inn. es söttigs hirnloses arschloch wi du muess mr nüt vo fridlechem zämeläbe und vo fuschträcht wöue cho predige, isch das klar?»

der andere, der mühe hatte, aufrecht zu stehen, nickte, während er sich mit einer hand an der theke festzuhalten versuchte. auf distanz wirkten seine augen wie schwarze löcher.

«das wett i ghoffet ha», sagte nero noch und schien sich abwenden zu wollen. doch plötzlich wirbelte er herum und rammte dem anderen mit voller wucht seine faust in den magen. der klappte lautlos zusammen und schlug hart auf dem betonboden auf.

«use mit däm seich», brüllte nun nero in den saal. dienstfertig erhoben sich mehrere biertrinker an den tischen, aber nero schrie: «dr nöi! wo isch dr nöi? dr nöi söu ne usetue, dä het hüt no nüt gschaffet!»

die köpfe der stummen menge drehten sich langsam gegen mich. ich spürte, wie das plastikbesteck in meinen händen zu zittern begann. gleichzeitig merkte ich, dass der schlapphütige neben mir geräuschlos lachte und mich fixierte: «so», sagte er, «wosch immer no mitschaffe, hie inn?» dann erhob er sich und ging dem ausgang zu. ich fühlte neros kalten blick auf mir und zögerte noch einen augenblick. dann sprang ich aus der bank, liess das essen stehen und eilte hinter dem schlapphütigen her nach draussen. hinter mir hörte ich neros spöttische stimme: «muesch entschuldige, schnuderbueb, aber de überwinterisch haut duss.»

*

schweigend ging wir im dunkeln nebeneinander hinüber zur eisenbahnbrücke. zwischen hütten, holzstössen, altmetallbergen und allerhand undefinierbarem gerümpel tasteten wir uns vorwärts. weit drüben im milchigen scheinwerferlicht erkannte ich, verloren im dichten schneeregen, die kahlen silhouetten vereinzelter, noch kaum mannshoher birken im geröll des vorfeldes, das, wie ich später erfuhr, früher ein parkplatz gewesen sein soll. den stachelraht mit den wachtürmen und die stadt dahinter konnte ich im schneegestöber nur noch erahnen.

der schlapphütige nahm mich bei der hand und zog mich durch eine notdürftig gezimmerte tür, die er hinter sich wieder zuzog und festmachte, dann schlüpften wir unter dicken tüchern hindurch in den einzigen raum der hütte, in dem ein offenes feuer unter einem kleinen blechernen rauchfang wärme und lichte verbreitete. der boden war mit brettern und tüchern ausgelegt.

neben dem feuer erhob sich jetzt die junge frau, die ich bereits kannte, sie küsste mich leicht auf beide wangen und sagte: «es fröit mi, dass’d chunnsch. i heisse trix.»

«und i jörg», sagte der mann neben mir. er hatte den hut, der seine augen verdeckt hatte, weggelegt und lächelte. als er seine hand auf meine schulter legte und mich zum sitzen einlud, nannte auch ich meinen namen. dann setzten wir uns ans feuer. teeschlürfend begannen wir zu sprechen. ich fühlte, wie die angst langsam wich.

im hintergrund schlief in einer improvisierten wiege warmverpackt das fiebernde kind.

Das Typoskript ist datiert mit: «23/9-6/10/81». – Zum Atomkraftwerk in Graben (BE): Seit 1972 galt Graben an der Aare als Standort für ein zweites Atomkraftwerk der Bernischen Kraftwerke AG (BKW). Das Projekt ist erst in den neunziger Jahren endgültig verworfen worden.

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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