Cottis vierfache Wende

In den ersten vierzehn Tagen seiner Amtszeit hat sich der neue Bundespräsident Flavio Cotti zweimal zur Lage der Nation geäussert; in der Ansprache zum neuen Jahr und jener, die er zur Eröffnung der 700-Jahr-Feier am 10. Januar 1991 in Bellinzona hielt. Seine Botschaft: Die Willensnation Schweiz kann europakompatibel gemacht werden. «Wir» müssen es nur wollen. Und Kritik ist erwünscht. Sofern sie mitmacht.

In der Neujahrsansprache hat Cotti seinem Volk das Problem gestellt. Es gelte, «über unsere Politik und unsere Gesellschaft nachzudenken und zu diskutieren». Zur Diskussion gestellt seien «unsere Unsicherheiten, unsere Grenzen, unsere Widersprüche und Schwächen» sowie die Schwächen unseres Landes».

In Bellinzona ist er deutlicher geworden: Der Schweiz sei bisher immer «eine gewisse Idee» zugrunde gelegen, die jeweils «ein glückliches Konglomerat tiefer Überzeugungen» und «Gewissheiten» gewesen und heute, mindestens zum Teil, überholt sei. Frag-würdig geworden sind für Cotti «unsere Unabhängigkeit», «unsere Neutralität», «unsere Defensivarmee», «unser republikanischer Egalitarismus», «die direkte Demokratie», «unser Föderalismus» und «unsere Mehrsprachigkeit». Zusammenfassend sagte er: «In Tat und Wahrheit sind in Friedenszeiten noch nie gleichzeitig so viele schweizerische Konstanten, aus denen wir uns heute die Daseinsberechtigung der Schweiz hergeleitet haben, zur Diskussion gestanden.»

Cotti verordnet seinem Volk deshalb als «vierfache Wende» eine weltanschauliche Kurskorrektur: Einzusehen gelte es erstens, dass es «den ‘Sonderfall Schweiz’ nicht mehr gibt»; zweitens, dass die Schweiz nicht «im Alleingang in Europa und in der Welt bestehen» könne; drittens, dass deshalb voraussichtlich eine «teilweise Preisgabe» der «schweizerischen Konstanten» bevorstehe und viertens, dass trotzdem «Minderwertigkeitskomplexe oder gar Selbstzerstörungslust» ungerechtfertigt seien.

Für den bevorstehenden Umbau der Schweiz-Ideologie braucht Cotti die Kritik, denn «es besteht kein Zweifel, dass oppositionelle Geister, mögen sie auch noch so hart und radikal sein, für jedes wirklich freie Land letztlich unentbehrlich sind». Im speziellen erwähnte er in Bellinzona die patriotische «Treue eines Meienberg» und hat diesen so zur Gallionsfigur für jene Andere Schweiz gemacht, die sich zur Zeit gegenüber den Staatsfestivitäten und der Europakompatibilität der Schweiz gleichermassen dissident verhält.

Diese Dissidenz ist das einzige, womit Cotti nicht umgehen kann. Was er braucht, ist «ein kritischer Geist, dem aber auch das Vertrauen nicht fremd ist». Darum droht er, wer sich den «Augenblicken» wie der 700-Jahrfeier fernhalte, könne «in keinem Fall mit der Zustimmung der Gemeinschaft rechnen». Cotti hat demnach gesagt: Die Zwänge des neuen Europa erfordern eine ideologische (und danach politische) Revision des Projekts Schweiz, und er möchte, dass alle mitmachen. Will das die Andere Schweiz?

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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