Cool! Chic! Terroristin! Und niemand ist gefeit

 

Zum Journal B-Originalbeitrag.

 

«eingewandert.ch», das ist zum Beispiel das Integrationspuzzle von Eve-Marie Lagger: Fünf übereinander montierte leuchtende Würfel, drehbar, allseitig mit Fotos beklebt. Sie zeigen vier Porträts von jungen Männern, dazu Aufnahmen von Häusern, Handschriften, Handys persönlichen Gegenständen. Welcher Mann wohnt wo? schreibt wie? besitzt welches Handy, welchen persönlichen Gegenstand? Und jetzt: Drehe die Würfel solange, bis alle Zuordnungen stimmen.

Eigenständige Blicke auf ein aktuelles Thema

Oder Peter Eichenbergers Projekt. Er hat zehn Leute aus seinem Berner Bekanntenkreis porträtiert, Kolleginnen und Kollegen – Einheimische mit Wurzeln in Argentinien, Benin, Dänemark, Deutschland, Italien, Kurdistan, Spanien, Sri Lanka, in der Türkei und auf den Seychellen. Vis à vis Daniel Luginbühls zwölf durchwegs einnehmend inszenierte Porträts, sechs Frauen, sechs Männer, alle mit einer Kopfbedeckung. Beim Betrachten unwillkürlich der routinierte innere Monolog, für den man sich schämt: Cool! Chic! Terroristin!

Dann Werner Lüthis Serie zweier Frauen und zweier Männer: Alle vier abgebildet in einer Berufssituation, einer Freizeitsituation und auf einer Porträtaufnahme, ihren Schweizer Pass vorweisend. Drei von ihnen sind in die Schweiz eingewandert. Welche? Warum? Oder Severin Nowacki: Er zeigt, wie es die schweizerischsten Schweizer, die Bauern, mit ihren Schweizerkühen haben: Die für meinen Laienblick schweizerischste der fünf porträtierten wurde aus den USA importiert, die anderen kommen aus Schottland, Frankreich, Friesland und noch einmal aus Frankreich.

Kuno Schläfli hat im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten acht Stiftinnen und vier Stifte mit Migrationshintergrund porträtiert und interviewt. Zum Beispiel Selina, die auf französisch und auf berndeutsch von ihrem spanischen Vater erzählt. Das Thema des weitegereisten Karl Schuler schliesslich ist folgendes: «Menschen aus aller Welt in ihrem Element». Seine Bilder zeigen, was ein würdiges und erfülltes Leben ausmacht und erinnern daran, dass niemand freiwillig migriert – nicht einmal in die Schweiz.

Projekt unter einem guten Stern

Severin Nowacki ist der einzige professionelle Fotograf unter den Ausstellenden. Er sagt: «Ich selber bin Einwanderer der vierten Generation.» Er habe zwar das Gefühl, er sei von hier, «aber mein Urgrossvater kam aus Polen in die Schweiz».

Diskussionen über die Flüchtlinge auf der Balkanroute führen in der Gruppe im Herbst 2015 zur Idee, das Thema Migration fotografisch anzugehen. Ein gemeinsames erstes Brain-Storming umkreist Begriffe wie Identität, Integration, Migration, Flucht und Rassismus. Daraus entstehen erste Ideen für fotografische Umsetzungen.

Starken Rückenwind erhalten diese Ideen, als das Museum für Kommunikation von ihnen erfährt und Interesse anmeldet, daraus eine Ausstellung zu machen. Man erarbeitet gemeinsam ein Konzept mit interaktiven Elementen, die Zuständigen im Museum sind davon begeistert, und im Juni 2016 unterzeichnet die Gruppe einen Vertrag: Das Museum bietet Infrastruktur und professionelle Unterstützung durch die Museumsangestellten, die Gruppe stellt ihre Werke zur Verfügung und sucht dafür Sponsoringgelder. «Dieser Start grenzte an Hochstapelei», sagt Nowacki. «Aber es kommen so viele Leute in diesem Land an, die haben ihr Leben riskiert. Wir wollten zumindest die Ausstellung riskieren.»

Das Projekt steht unter einem guten Stern: «Viele Leute haben an uns und unsere Ideen geglaubt und uns unterstützt. Mit jeder Geldspende konnten wir die technische Umsetzung unserer Projekte optimieren.» Unterdessen gibt es neben der Ausstellung Plakate, Flyer, eine Internetseiteein Lehrmittel und eine Serie von Videos auf Youtube. Ihm habe die Gruppe den Auftrag gegeben, nebenbei als Art Director zu wirken: «Wir haben abgemacht, dass ich für die künstlerische Qualitätssicherung zuständig sein solle.» 

Didaktik für die Jungen? – Aufklärung für alle!

Ein Lehrer der GIBB erarbeitete während der Weihnachtsferien für die Ausstellung ein Lehrmittel, das den Ausstellungsbesuch für Schulklassen didaktisch vorbereitet. Bereits haben sich 16 GIBB-Klassen für Führungen angemeldet. Aber zu sagen: Sehr gut, die Jungen sollen ruhig was lernen gehen ins Museum für Kommunikation, wäre eine billige Schutzbehauptung.

Mit sieben unterschiedlichen, sauber gedachten, leidenschaftlich fotografierten und sehenswert inszenierten Zugängen macht die Ausstellung das aufklärerische Angebot, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, von denen sich angesichts der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen niemand dispensieren kann: Was tun mit der verdrucksten eigenen Hilflosigkeit gegenüber dunkler Haut und fremden Sprachen? Was tun mit dem eigenen schlechten Gewissen, hier auf viele Arten privilegiert von der Ausbeutung und deren klimatischen Folgen anderswo zu profitieren? Und was tun, wenn einem dämmert, dass man nicht bloss deshalb kein Rassist bleibt, weil man mit den richtigen Wörtern selbstgerecht zu betonen weiss, man sei keiner?

Nowacki spricht wohl für die ganze Gruppe der FotografInnen, wenn er sagt: «Ich habe während der intensiven Arbeit an diesem Projekt gelernt, dass es darum geht, es genau wissen und eine klare Haltung haben zu wollen, damit nicht Vorurteile den eigenen Blick trüben.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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