Berns Brückenkopf der Kunstmoderne

Kommst du, o kunstbeflissener Mensch, von Norden nach Bern, begegnest du oben am Felsenaustutz einer Beiz, der «Äusseren Enge». Gehst du von hier weiter stadtwärts, so stehst du schon bald vor der nächsten, der «Inneren Enge». Wendest du dich nun, weitergehend, nach rechts, so kommst du un­weigerlich ins Länggassquartier, wo Paul Nizon aufgewachsen ist, ein Belletrist, der nicht Berner Schriftsteller werden wollte, sondern ein richtiger. Ende der sechziger Jahre schrieb er den «Diskurs in der Enge», worin er als «Engnis der Enge» «das Schweizerische in der Kunst der Schweiz» beklagte. Drauf ging er in die weite Welt ins Exil und wurde berühmt. Sein Denkmal ist noch nicht errichtet, drum gehst du hinunter zur Altstadt und querst die interkontinentale Tourismusattraktion der vielhundertjährigen Sandsteinkatakomben, durch die am 27. August 1653 vom Käfigturm her der Bauernführer Niklaus Leuenberger zum Hauptgalgen untenaus geführt worden ist, wo ihn Meister Michel mit dem Spaltmesser gevierteilt und drauf salutierend den Hauptweibel der Stadt ange­fragt hat: «Han i rächt grichtet?» So erreichst du die Kirchenfeldbrücke und siehst sie nun linkerhand über dem anderen Aarebord liegen: die Berner Kunsthalle, bei gutem Wetter von einem Panorama von Flühen und Hörnern und den Kalkbuckeln der Sieben Hengste gekrönt, seit 75 Jahren Brückenkopf der Kunstmoderne in dieser traulich dräuenden Provinz.

Ausstellungsraum gegen alte Meister

1908 macht der Kunstmaler Ferdinand Hodler, seines Zeichens Zentralpräsident der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA), dem Bundesrat einen Vorschlag. Für die seit 1890 periodisch stattfindende na­tionale Kunstausstellung solle in Bern ein ständiges Gebäude, eine Kunsthalle, errichtet werden. Sie solle der «Neubelebung der heimatlichen Kultur» dienen, «um der Gefährdung der natürlichen und kulturellen Eigenart durch die Industrialisierung entgegenzuwirken». Gleichzeitig ist dieser Vorschlag ein Protest der GSMBA gegen den kanonisierten Traditionalismus des Kunstmuseums, gegen die ausschliessliche Präsenz alter Meister in den Ausstellungsräumen.

Am 5. Oktober 1918 wird die Kunsthalle eröffnet: «In zähem, mühsamem Ringen schleppten sich nun durch Jahre hindurch die Bemühungen der Künstlerschaft und einer relativ kleinen Zahl von Kunstfreunden, um weitere Kreise für die finanzielle Verwirklichung ihres Herzenswunsches zu gewinnen. Die Verhältnisse der Beamtenstadt Bern brachten es mit sich, dass nur Schritt für Schritt Boden gewonnen werden konnte. Wenn man aber in Betracht zieht, dass die erforderliche Bausumme 250000 Franken nicht übersteigt, und damit vergleicht, wie lange es gedauert hat, bis dieses Geld beisammen war, so wird der Abseitsstehende […] der Förderung der Kunstinteressen in der Bundesstadt keine übertriebene Anerkennung zollen können», vermeldet die NZZ. Jedoch haben die Architekten des kargen Gebäudes gute Arbeit geleistet, wie der amtie­rende Kunsthalle-Leiter, Ulrich Loock, letzthin gerühmt hat: «Wenn ich von der Schönheit der Kunsthalle spreche, meine ich im Grunde die Qualität einer Architektur, die prägnant und präzise ihren eigenen Charakter hat und zugleich zurückhaltend ist.»

Die Kunsthalle sollte damals Vermittlungsinstanz zwischen der lokalen Kunstszene und der international diskutierten Gegenwartskunst werden; eine Sammlungstätigkeit war nicht vorgesehen. Der Katalog zur ersten Ausstellung des Jahres 1919, «Neue Münchner Malerei und Graphik», hält programmatisch fest: «Die Kunsthalle will in ihren wechselnden Ausstellungen nicht bloss eine Verkaufsstelle für einheimische Künstler sein, sondern stellt sich daneben zur Aufgabe, dem Publikum im Lauf der Zeit und nach Möglichkeit ein Bild des gegenwärtigen Kunstschaffens zu vermitteln. Dabei scheint es geboten, auch Werken Aufnahme zu gewähren, über deren ästhetischen Wert die Meinungen noch sehr geteilt sind, die aber als bedeutsame Faktoren der künstlerischen Weiterentwicklung angesehen werden müssen.»

Berner Schule gegen Heimatkunst

Der Männerclub GSMBA ist in der Gründungszeit der Kunsthalle in zwei Fraktionen gespalten. Ein Männerclub ist er (und ist’s noch für Jahrzehnte geblieben), weil der Patriarch Hodler an einer Sitzung gedonnert hat: «Mir wei kener Wyber!», und gespalten ist er, weil die Künstler ziemlich unterschiedliche Kunstauffassungen haben. Der Kunsthistoriker Marcel Baumgartner spricht von der Fraktion der «Heimatkunst» und von der «Berner Schule». Während sich letztere in der Tradition Hodlers mit den modernen Kunstströmungen des Auslands auseinandersetzt und sich von diesen beeinflussen lässt, ist die «Heimatkunst»-Fraktion eingebunden in die Ideologie vaterländischer Rechtschaffenheit und versteht sich als Teil der aufkommenden Heimatschutzbewegung, die sich gegen die zunehmende Gefährdung der natür­lichen und kulturellen Eigenarten durch die Industrialisierung und ihre Folgen stellt.

Unter dem Titel «Kunst und Kunstpolitik in Bern» polemisiert der konservative Kunstkritiker Ulrich Wilhelm Züricher in seiner 1920 publizierten «Klarlegung» gegen die «Kunstgrippe», gegen die «moderne Dekadenz» der «abstrakten Künstler». Gerade jene, klagt er, würden zu «Säulen der modernen Kunst» emporgejubelt, «die am wenigsten innere Festigkeit, am wenigsten Ewiges in sich tragen». «Welle um Welle, Mode um Mode» stürme heran, an denen das meiste nur «Stilsensation» sei, «pour épater le bourgeois». Exemplarisch kriti­siert er aus der Sicht der Heimatkunst die neuen Werke Cuno Amiets, in denen man «jene gewaltsame, verrenkte, kreischende, gehetzte, moderne Fieberstimmung» sehen könne: «Ich fühle menschlichen Niedergang, eine aus der Bahn geratene Seele, viel Bluff». Für den Kunstmaler und Schriftsteller Züricher, der in Sigriswil am Thunersee arbeitet, ist eben «die Stadt Brennpunkt geistigen Lebens, aber auch Fäulnisherd». Dieses Motiv des Antiurbanismus schwingt in der kommenden Zeit in allen konservativen Angriffen gegen die Arbeit der Kunsthalle mit: Bern liegt zu jeder Zeit am Rand der Moderne.

Avantgarde gegen braune Kritik

Die Zeit von der Gründung der Kunsthalle bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gilt in Bern als «drei Jahrzehnte im Zeichen der Tradition» (Marcel Baumgartner). In den frühen dreissiger Jahren hat die Künstlergruppe «Ein Schritt weiter» (Tonio Ciolina, Albert Lindegger, Max von Mühlenen und Hans Seiler) mit ihren gemässigt modernen Werken einen schweren Stand. Ihr Argument, «die durch Naturalismus erdrückten künstlerischen Formen durch rein-malerische zu ersetzen», wird ausserhalb der Fachwelt nicht verstanden. Man sieht in ihren Arbeiten lediglich «Zeitdokumente», die die «Zeit in ihrer ganzen Zerrissenheit und nervösen Aufgeregtheit» zeigten («Berner Tagwacht»). Als der weltoffene Kunsthalle-Leiter Max Huggler Anfang 1935 Paul Klee zeigt, zählt man knapp 2000 BesucherInnen (ein halbes Jahrhundert später, 1987/88,  lockt eine grosse Klee-Retrospektive des Berner Kunstmuseums 150000 BesucherInnen an).

Unter dem Zeichen des Nationalsozialismus kommen die Modernen in Bern ab Mitte der dreissiger Jahre zusätzlich unter Druck. Als sich Huggler im Februar 1938 erfrecht, in einer Gruppenausstellung auch Werke des zeitkritischen Expressionisten Max Beckmann auszustellen, zeigt die reaktionäre Kunstkritik Flagge. Das «Berner Tagblatt» gibt sich entsetzt ob Beckmanns «Wollust», «mit der er in die dunkelsten Schächte menschlicher Verkommenheit» steige, sie trage «in ihren Zersetzungslüsten etwas Krankhaftes, ja Perverses, dass man sich nur mit Widerwillen einer Kunst von solcher Entartung zu nähern ver­mag». Die nazistische «Front» druckt als Beitrag eines «Berner Künstlers» einen anonymen Rundumschlag gegen die Modernen in Bern: «Die harmlosere Sorte dieser ‘freien’ Geister kennen wir aus nächster Nähe. Es sind die Kunstfanatiker, die um der Kunst willen längst gelöste Farbprobleme wälzen, ‘lockere, rein malerische’ Gebilde erstellen. Es sind jene, die sich als Revolutionäre fühlen, wenn sie Kuben, tiefseelisches Gewirre malen oder Zeichnungen unbegabter Kinder imitieren. Es ist deprimierend zu erleben, wie dadurch selbst bei sonst verständigen Leuten ein Gefühl der Unsicherheit im Beurteilen künstlerischer Leistungen und Bestrebungen aufkommt».

In bezug auf Beckmanns Bedeutung schreibt dieser Anonymus: «Eine ganze Reihe von Kunstverdrehern, deren Namen teilweise verdächtig jüdisch klingen, erfinden für Beckmanns ‘Kunst’ die unglaublichsten Auslegungen. […] Wir verlassen die Kunsthalle mit dem bestimmten Gefühl, dass die Säuberungsaktion in der deutschen Kunst nicht eine Kulturschande, sondern eine Kulturtat genannt zu werden verdient.» Der Druck auf Huggler wirkt. Im Herbst des gleichen Jahres sieht er sich zu einer Art Gegengeschäft genötigt: Er stellt «moderne italienische Kunst» aus – auf «Anregung» des (faschistischen) italienischen Gesandten in Bern, wie die NZZ zu melden weiss.

Bundesbeamte gegen die Tendances actuelles

Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt «die lange Reihe der sich über zehn Jahre erstreckenden faszinierenden Ausstellungen, die der Kunsthalle Bern bald zu weltweitem Ruf verhalfen und aus ihr den lebensnahen Umschlagplatz von Ideen und Erkenntnissen werden liessen», so der Berner Galerist Eberhard W. Kornfeld. Das sind die «heroischen Jahre» (Marcel Baumgartner), die Zeit der Öffnung nach dem Zweiten Weltkrieg, als US-amerikanische Besatzungssoldaten auf Urlaub den Jazz und einen freieren Lebenstil nach Bern bringen, als sich in Altstadtkellern Gymeler klandestin treffen, um Sartre und Camus zu diskutieren, als der Buchhändler René Simmen seine Privatwohnung in ein «Kunstkabinett» umwandelt und darin die Zürcher Konkreten um Max Bill ausstellt, als der «Bund»-Volontär Eugen Gomringer diese Ausstellung für seine Zeitung enthusiastisch bespricht, danach den Ansatz der Konkreten auf die Sprache zu übertragen versucht und in der 1953 von Marcel Wyss und Dieter Roth in einem Altstadtcafé gegründeten Kunstzeitschrift «spirale» seine ersten poetischen Versuche in dieser Richtung veröffentlicht (während die «spirale» in die Kunstgeschichte eingeht, gilt Gomringer heute als der «Vater der konkreten Poesie»). In der jungen Kunstszene brodelt es in dieser Zeit in einem Mass, dass es dem unterdessen arrivierten Max von Mühlenen gschmuech wird: «In den alten Gassen unten riecht es sehr nach Montparnasse und St-Germain. Und wie dort scheint eine Hauptsorge darin zu bestehen, Ausstellungsmöglichkeiten ausfindig zu machen. Die Originalität der gefun­denen Orte übersteigt manchmal die der ausgestellten Malereien. Keller, Estriche, Theater, Schaufenster, private, vorübergehend verwandelte Schlaf- und Esszimmer, alles wird zum Ausstellen benützt.» («Bund»)

Eine der zentralen Figuren dieser Zeit ist Arnold Rüdlinger. Er hat 1946, ge­rade 27jährig, von Max Huggler die Leitung der Kunsthalle übernommen. Er ist einer «mit einer Art Witterung, einem Ur-Instinkt für das Echte, Einfache, das künstlerisch Wertvolle» («Bund»); ein Macher, der mit seinem Camion in Europa herumkurvt und von Braque über Mirò bis Léger immer neue Schätze der modernen Kunst mitbringt; einer der beim Wein im «Café du Commerce» leutselig und trinkfest hofhält und den angehenden Picassos der Altstadt den Tarif bekanntgibt. Mit seinen drei Ausstellungen «Tendances actuelles I - III» (1952-1955) bringt er den Tachismus und das Action painting nach Bern; mit der Eisenplastik-Ausstellung 1955 zeigt er einer Reihe von kunstbegeisterten Altstadt-Halbstarken ihren Weg (sie heissen Bernhard Luginbühl, Jimmy Schneider und Walter «Pips» Vögeli).

Freilich gibt es nun auch Fraktionskämpfe unter den Modernen (wer andere Wege geht, wie etwa der neoromantische Holzschneider Franz Gertsch, muss bös untendurch). Übereinstimmend bestätigen Augenzeugen, dass Rüdlinger die vom Surrealismus herkommende, in Bern lebende Meret Oppenheim zwar als gebildete Gesprächspartnerin im «Commerce» hoch geschätzt, sie jedoch als Künstlerin in keinem Moment ernstgenommen habe. Und der in Bern isolierte Kreis der Konstruktivisten um die «spirale» hat sich scharf gegen Rüdlingers Vorliebe für die «irrationalistischen Schöpfungen» und die «gestischen Tendenzen» der modernen Kunst gewandt.

Als Rüdlinger im Herbst 1955 an die Kunsthalle in Basel wechselt, herrscht in der Berner Kunstszene Aufbruchstimmung. Rolf Iseli, von Rüdlinger zum Tachismus bekehrt, erhält 1957 für seine «Composition» das eidgenössische Kunststipendium. Ein Skandal! Hundert Bundesbeamte machen eine Eingabe an Bundesrat Philipp Etter und fordern (erfolglos), dass das Stipendium rückgän­gig gemacht werde: «Wir können uns nicht vorstellen, dass eine Eidg. Kunstkommission ein solches ‘Gekritzel’ prämieren kann.» Rüdlingers Nachfolger Franz Meyer bringt 1960 Luginbühl und Tinguely («Alteisenausstellung», «Schmarren», «klappernde Rosthausen», giftet die Presse) und schreibt später, er habe als Leiter der Kunsthalle Bern die Ära Rüdlinger weitergeführt: «Der generationenbedingte Umbruch» sei erst nach ihm gekommen. Im Sommer 1961.

Gesunder Menschenverstand gegen Attitüde

Als der gebürtige Berner Harald Szeemann zum Kunsthalle-Leiter berufen wird, ist er 28 Jahre alt und hat in der Stadt vor allem eine Referenz: Er hat schauspie­lerisches Talent, das er an Gymer-Bällen, Pfader-Abenden und, 1956, unter dem Titel «Tendances actuelles oder heute rot – morgen tot» als Solokabarettist im Kellertheater an der Kramgasse 6 verschiedentlich unter Beweis gestellt hat.

Nun hat er Glück, dass ausgerechnet in seiner Kunsthalle-Zeit (1961-1969) das letzte Aufgebot der künstlerischen Avantgardebewegungen auftritt und weithin sichtbar Furore macht. Und die Kunsthalle hat Glück mit der Wahl Szeemanns, weil es diesem, innert kurzer Zeit gelingt, die Kunsthalle zur öffentlich heiss umstrittenen Angelegenheit zu machen. Er kennt die (sub)kulturell aktiven Szenen und Gruppen, Kreise und Zirkel der Altstadt, vernetzt und arbeitet zu­sammen, wo’s geht. Für eine seiner ersten thematischen Ausstellungen (Puppen – Marionetten – Schattenspiele, 1962) nimmt er eine Anregung des Leiters des Diskussionszirkels «Kerzenkreis», Walter Zürcher, auf. Ein Jahr später lässt er sich von Luginbühl und anderen inspirieren, die im Estrich der Irrenanstalt Waldau herumklettern und dort merkwürdige, dicke, mit einem Garbenseil um­schnürte Tagebücher eines Verrückten finden. Szeemann macht unter anderem mit diesem Material die Ausstellung «Bildnerei der Geisteskranken» – sie ist ein Meilenstein in der Geschichte der Art brut und führt zur posthumen Entdeckung Adolf Wölflis. Szeemann arbeitet mit der avantgardistischen Altstadt-«galerie aktuell» und mit fortschrittlichen Berner Architekten zusammen, als er 1965 die Ausstellung «Licht und Bewegung / Kinetische Kunst / Neue Tendenzen der Architektur» macht. Und er sucht die Zusammenarbeit mit den Nonkonformisten um den Diskussionskeller «Junkere 37», als er 1967 eine «Science Fiction»-Ausstellung plant.

Daneben unterstützt Szeemann nach Kräften die internationale Kunstavantgarde bei der Überwindung der letzten bis anhin unumstösslichen ästhetischen Kategorie, des «Kunstwerks» selber. Für das Frühjahr 1969 organisiert er (gesponsert von Philip Morris Europe) die Ausstellung «When Attitudes Become Form». Der Katalog zur Ausstellung führt 69 Künstler (darunter ge­rade drei Künstlerinnen) aus Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien und den USA auf: «In der Ausstellung sind es ungefähr 40, die mit Werken vertreten sind; denn über die Aktivitäten der anderen kann lediglich ‘informiert’ werden, da ihre ‘Werke’ nicht ausstellbar sind.» Was in der Kunsthalle ausgestellt wird, nennt sich provisorisch «Antiform». Zu sehen ist «Prozesskunst und Konzeptkunst»: «Statt Besitzobjekten Denken über Kunst, statt Realität Haltungen zu und gegenüber der Realität, statt Resultaten Impulse»; gesucht ist das «Unkonsumierbare, Unarrangierbare, Unvorgefertigte. Mit einem Wort: Authentizität ist alles», wie Georg Jappe kommentiert hat. Zu sehen ist in die Ecken geschmiertes Fett, sind Aschehaufen, ein gläsernes Iglu und räumliche Neonkrakel, ein riesiges Gummituch, das mit Sägemehl und Erdpigmenten bespritzt ist, weissgestri­chenes Papier auf weisser Wand; daneben Land-art: Grabenziehen, Traktorfahren, Wandern, Spiegel in Wälder und Steinbrüche gesteckt, ein Selbstbegräbnis etc.

Das Publikum sieht nicht die «Verweigerung und die Absage an das Fortschrittsdenken» (Baumgartner), nicht die «Desintegration der Struktur» oder die «Destruktion des Kunstbegriffs» (Jappe) und nicht «die Wahl des Materials und die Form des Werkes als Verlängerungen der Geste» (Szeemann). Es sieht «Attitüden – Plattitüden» («Bund») und «Kunst, die nur vom originalitätssüchtigen Leiter der Kunsthalle ernst genommen wird» («Anzeiger von Uster»). Es fordert «Endlich ein Wort ‘von oben’!» («Echo von Grindelwald) und fragt erschrocken: «Was verbindet diese Leute noch mit der wehrhaften Schweiz?» («Bischofszeller Zeitung»). Anonyme Vertreter die­ser «wehrhaften Schweiz» deponieren nächtens einen Misthaufen vor der Kunsthalle und die «Appenzeller Zeitung» frohlockt: «Die Antwort auf Mist: Mist». Die beiden jugendlichen Aktivisten Peter Saam und Hanspeter Jost ihrer­seits geben mit einem Happening einer anderen Attitüde Form: Sie verbrennen vor der Kunsthalle ihre Millitäreffekten (und werden dafür später beide zu un­bedingten Gefängnisstrafen verurteilt).

Nie vorher und nie nachher ist um eine Kunsthalle-Ausstellung leidenschaftli­cher gestritten worden. Teils weil die Ausstellungskommission der Kunsthalle kurz darauf den Szeemann-Vorschlag zu einer Beuys-Ausstellung zurückweist (die «Fettecken» letzthin waren keine Referenz), teils weil die einheimische Künstlerschaft sich zurückgestellt fühlt (und zum Teil schlicht nicht mehr ver­steht, was in «ihrer» Kunsthalle vor sich geht), demissioniert Szeemann noch im Sommer 1969. Die «Frankfurter Allgemeine» schreibt zu seinem Abgang, noch selten sei «die Begabung, das, was kommt, zu spüren, zu durchdenken und sichtbar zu machen» so «eindeutig in Erscheinung getreten» wie bei ihm. Ein Jahr später wird Szeemann zum Generalsekretär  für die Kasseler «documenta 5» von 1972 ernannt.

Öffentliche Ignoranz gegen Expertentum

Seither ist es stiller geworden um die Kunsthalle in Bern. Die legendäre Kunstszene zerfiel: Die Tüchtigeren aus den Altstadtateliers hatten sich erfolg­reich auf den Marsch vom «Commerce» zum Kommerz gemacht und die Künstlerinnen um Meret Oppenheim waren «für den tonangebenden Kern der Berner Kunstszene noch keine gleichberechtigten Partnerinnen», sie wurden diskriminiert und zogen sich zurück (so die Kunsthistorikerin Annelise Zwez). Die Kunsthalle wird nach Szeemann von Carlo Huber (1970-1974) geleitet, dann von Johannes Gachnang (1974-1982), Jean-Hubert Martin (1982-1985) und seither von Ulrich Loock. Sie geniesst weiterhin internationale Anerkennung und wird in Bern von Interessierten und vom Bildungsbürgertum getragen. Aber die öffentliche Ausstrahlung, die sie Ende der sechziger Jahre gehabt hat, hat sie nie wieder erlangt. Für die Eingeborenen ist aktuelle Kunst unverständlich geworden, die Kunsthalle akademisch und elitär. Gegenüber Radio DRS 2 hat Loock vor zwei Jahren gesagt: «Man kann immer nur staunen, was sich eine Bürgerschaft im Grunde bieten lässt. Der Preis, der dafür bezahlt werden muss, ist, dass sich auch keiner wirklich darum schert» – und hat damit fast wörtlich ein Diktum Rüdlingers aus dem Jahr 1955 wieder­holt: «Die schlichte Uninteressiertheit Berns sichert zwar keine Unterstützung, jedoch die nötige Toleranz».

Dass die Kunsthalle ausserhalb der Fachkreise und der dazugehörigen Schickeria seit Anfang der siebziger Jahre immer mehr oder weniger ignoriert wird, hat Gründe: Auf die Frage, wie er «die Kunst unserer Gegenwart definieren» würde, hat Szeemann schon 1969 mit «Simultaneität der Stile» geantwortet. Mit dem Niedergang der Ideologie des Fortschritts haben bereits damals die künst­lerischen Avantgardebewegungen ihren Sinn weitgehend eingebüsst. Bis Ende der achtziger Jahre hat sich die unübersichtliche Postmoderne zu «einem alles nivel­lierenden Pluralismus» (Johannes Gachnang) ausgewachsen. Nachdem sich die Kunst durch fortgesetzte Auflösung und Negierung objektivierbarer ästhetischer Kriterien dem Verständnis breiterer Bevölkerungskreise provozierend (und vermutlich endgültig) entzogen hat, zerfällt sie im Zeitalter des «Anything goes» einerseits in letztlich nicht mehr kritisierbare Phänomene, andererseits in einen mächtig dahertrompetenden Expertendiskurs über Kunst, der zunehmend in si­mulatorischem Bombast und in frei halluziniertem Wörterwust zerbröselt. Heute meint Kunst subjektive Erfahrenweisen ausserhalb jeglicher ideologischer Absicherung, hoch diffizile Problematisierungen der Macht der Darstellung, den «Ort der Ortlosigkeit, den sie ins Gegebene einschiebt» (Loock).

In der Provinz Bern ist Kunst heute dann ein Thema, wenn sie aus der Sicht des landläufigen Kunstverstands die Stadt «verschandelt» (und allenfalls bei Subventionskürzungs-Anträgen in der Räten von Stadt und Kanton). Die Auseinandersetzungen um den Oppenheim-Brunnen (1987/88) oder um den «Kreisel-Bären» von Housi Knecht in diesem Sommer zei­gen, dass sich die Kritik von dieser Seite seit der Attitüden-Ausstellung im Kreis dreht. Was die Kunsthalle betrifft, denken sich die einen: Sollen die dort machen, was sie wollen, Hauptsache drumherum ist sauber aufgeräumt. Und die anderen fragen sich vielleicht ab und zu, wenn sie von der Kirchenfeldbrücke her hinüber zum Alpenkranz blicken: Was ist das eigentlich für ein Haus dort drüben, mit den Sieben Hengsten im Genick?

Hauptsächliche Quellen:

• Jean-Christophe Ammann/Harald Szeemann [Hrsg.]: Von Hodler zur Antiform – Geschichte der Kunsthalle Bern, Bern (Benteli) 1970.

• Marcel Baumgartner: L’art pour l’Aare – Bernische Kunst im 20. Jahrhundert, Wabern (Büchler) 1984.

• Hans Rudolf Reust [Hrsg.]: Aus dem Musée eclaté an den Ort des Werks. Kunsthalle Bern 1969-1993, Bern (Kunsthalle), 1993.

 

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Ulrich Loock: Ein Programm gegen Spektakel, Basar und Kirmes

Hat Kunst ausstellen noch Zukunft?

 

Ulrich Loock, Direktor der Berner Kunsthalle seit 1985, zeigt heute Kunst, die versucht, «uns einen Ort in unserer Zeit» zu geben, ohne auf geschichtlich obsolet gewordene Sicherheiten und Ideologien zurückzugreifen.

WoZ: Im Rahmen der laufenden Veranstaltungsreihe zum 75-Jahr-Jubiläum der Kunsthalle hat letzte Woche der heute neunzigjährige Max Huggler, Ihr Vorgänger zwischen 1931 und 1946, ein Referat gehalten. Darin hat er ausgeführt, die europäische Kunst seit der Renaissance, die eines Betrachters bedürfe, «der die Täuschung vollzieht», sei mit dem Kubismus zu Ende gegangen. Seit Klee und Kandinsky bedürfe das Kunstwerk des Betrachters nicht mehr, es «sei sich selber genug». Kunst wäre also seither hermetisch und nicht-kommunizierend. Wozu stellen Sie Kunst überhaupt aus?

Ulrich Loock: Ich glaube, was Max Huggler gesagt hat, stimmt bis zu einem bestimmten Grad. Es spricht vieles dafür, dass die Autonomie der Kunst bis zum Hermetismus geführt hat. Aber selbst wenn das so ist, braucht es Ausstellungsräume. Es bedarf der Rezeption, damit diese Tatsache der Hermetisierung, des Sich-in-sich-selbst-Zurückziehens der Kunst überhaupt festgestellt wird. Und es bedarf der Ausstellungsräume, um zu kommunizieren, dass das Kunstwerk die Kommunikation mit dem Betrachter abgebrochen hat.

Das klingt ziemlich paradox.

Selbstverständlich. Wir leben ja immer mehr im Raum des Paradoxes. Es ist nur noch möglich, mit paradoxen Formulierungen zu operieren. Paradoxien sind Versuche, die angebliche Situation des «Anything goes» der Postmoderne zu strukturieren, Widersprüche und präzise Differenzen zu formulieren. Dafür scheint das Paradox gut geeignet zu sein: Man bricht die Aussage-Eindeutigkeit, die vom Fortschrittsglauben und den Überzeugtheiten der Moderne gelebt hat.

Das Paradox als Widerstand gegen die Beliebigkeit der Postmoderne. Bloss: Wenn es keine Parameter, keine ästhetischen Kriterien mehr gibt, um «Kunst» zu bestimmen, dann ist doch beliebig, was stattfindet.

Ich glaube ja ganz und gar nicht, dass Kunst so beliebig geworden ist. Es stimmt, dass wir einen Stilpluralismus haben. Aber es gibt doch immer noch Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Kunst. Ich kann immer noch so etwas wie die heftige, neoexpressionistische, wilde Malerei kritisieren, weil die neue Sicherheiten aufzubauen versucht, rückgreift auf Sicherheiten, die meines Erachtens geschichtlich obsolet geworden sind. Mir geht es um eine Kunst, die am ehesten und am kompromisslosesten uns in unsere Zeit hineinbringt, uns einen Ort in unserer Zeit gibt. Das nenne ich die Zeitgenossenschaft der Kunst.

Entscheidend ist, ob Kunst heute in der Lage ist, diese bodenlose Situation auszuhalten, in die wir gestürzt sind nach der Moderne, nach dem Ende der grossen Erzählungen – und ob sie diese Situation formulieren kann. Sicher, es gibt keine festen Parameter mehr, aber mich interessiert ja auch die Kunst, die in der Scheisse sitzt und mit der Scheisse Bilder malt. Ich kann ja persönlich höchste Befriedigung daraus ziehen, dass diese fatale Situation ohne Glauben formuliert wird, und dass wir daraus in die Lage versetzt werden, uns ihr nicht zu entziehen durch neue Sicherheiten und Ideologien. Wenn Sie darauf sagen, ich sei einer, der durch die Postmoderne hindurch das moderne Denken für sich selber zu retten versuche: Gut, von mir aus.

Hermetik steht neben Beliebigkeit: In der neusten «ZeitSchrift» berichtet der DRS-2-Redaktor Hans-Peter von Däniken über seinen Besuch an der «DOCUMENTA IX» vom letzten Jahr. Er kritisiert sie trotz den über 600000 Besuchern und Besucherinnen unter anderem als ein vom Kunstklerus zelebriertes Mysterium. Ist Kunst heute eine massenwirksame hermetische Kirche?

Die Documenta war ein Spektakel, ein Basar, eine Kirmes. Gerade die Documenta, und bis zu einem bestimmten Grad auch andere grosse Ausstellungen – das kritisiere ich ja –, bewegen sich wahnsinnig nahe heran an die Grenze zur kulturellen Animation. Da geht doch fast alles verloren, was ich, nach Virillo, «vertiefte Wahrnehmung» nenne. Nein, Kunst ist heute keine hermetische Kirche, es gibt ja ein riesiges Interesse – nur leider eben nicht für die Hermetik der Kunst, für die Schwierigkeit der Kunst. Aber Kunst muss doch schwierig sein, wo unsere Existenz so schwierig ist! Das wirkliche Problem heute ist die Überakzeptanz von Kunst, nicht ihre Hermetik. Das Problem ist, dass viel zu viele Leute viel zu schnell die Kunst viel zu sehr schätzen und sich viel zu sehr delektieren an solchen Ausstellungen. Kunst muss heute hermetisch sein, sie muss sich herausziehen aus dem wahnsinnig überhandnehmenden Kulturbetrieb.

Sie verteidigen die Autonomie der Kunst?

Diese Autonomie ist eine Erfindung der Moderne, so können wir’s auch nicht mehr machen. Sie hat ja mit dem Gedanken zu tun, dass von einer autonomen Kunst her die Welt neu organisiert werden könnte – und dieser Gedanke wiederum mit jenem der Utopie. In diesem Sinn ist Autonomie nicht mehr möglich. Die Autonomie der Kunst heute wäre eher eine Autonomie der Evakuation, der Negation, der Stillstellung. Der Raum, auf dem Kunst seine Funktion haben kann, ist auf jeden Fall enger geworden. Da bin ich sicher.

Nun ist ja nicht nur der «Kunst»-Begriff prekär geworden, die andere Schwierigkeit ist, dass die Kunsthalle, der Sie vorstehen, ihre ursprüngliche Funktion verloren hat, ein Fenster zur Welt, Vermittlungsinstanz zwischen der lokalen Kunstszene und der internationalen Gegenwartskunst zu sein.

Ein Fenster zur Kunstwelt war sie früher, weil es neben ihr kaum Institutionen gab, die die Gegenwartskunst gezeigt, gefördert und eine Auseinandersetzung darüber in Gang gesetzt haben. Heute gibt’s eine grosse Inflation von Ausstellungsorten. Dazu kommt eine Aufweichung und Vermischung der Funktionen. Heute machen Museen aktuelle Ausstellungen, Kunsthallen umgekehrt machen Museumsausstellungen, kommerzielle Galerien heuern Kuratoren an, die andernfalls in Museen oder in einer Kunsthalle arbeiten würden, und so weiter.

Heute müssen Sie demnach als Leiter die Funktion der Kunsthalle selber definieren?

Ja, wobei der Trend von einer institutionellen Definition – die Kunsthalle als Ort, wo breit über die gegenwärtig wichtigen Kunstströmungen informiert wird – weggeht hin zu einer Subjektivierung: Die Kunsthalle ist mehr und mehr der Ort geworden, der dem Kunsthalle-Leiter zur Verfügung steht, um seine subjektive Vision der Gegenwartskunst zu formulieren. Der Kunsthalle-Leiter wird zu einer Art Autor.

Arnold Rüdlinger hat in den fünfziger Jahren moderne Kunst gezeigt, und Loock zeigt heute Loocks Kunst?

Wenn Sie so wollen. Heute geht es wirklich immer mehr um ein Programm. Es gibt heute wichtige und bedeutende Sachen, die ich aus bestimmten Gründen nicht zeige, weil ich eine Stellungnahme abgebe und eine Entscheidung treffe für etwas und gegen etwas anderes. Die Funktion der Kunsthalle ist heute, einem Rezipienten, der sich orientieren will, einen Anhaltspunkt zu geben in einer ansonsten orientierungslosen Kunstsituation.

Und in Zukunft? Gibt es die Kunsthalle im Jahr 2018, wenn sie 100jährig würde, noch? Ist es möglich, dass das Kunst-Ausstellen, wie es die Kunsthalle tut, eines Tages historisch überholt ist?

Ich befürchte ein wenig, es könnte wirklich so sein, wie manche Theoretiker das angekündigt haben, dass sich die Realität vollkommen in das digitalisierte Flirren von Bits und ähnlichen Partikeln auflösen wird. Ich halte das aber nicht für eine wünschenswerte Zukunft unserer Existenz. Insofern würde ich mit einem gewissen Zweckoptimismus sagen: Kunsthallen werden weiterhin notwendig sein, und die Produktion einer durchaus körperlich in der Welt seienden Kunst wird auch weiterhin notwendig sein und weiterhin gemacht werden.

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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