Beleidigte Überheblichkeiten

Die Obrigkeit und der Kulturboykott

«Meine Damen und Herren, was ist die 700-Jahr-Feier? Zelebrieren wir die Macht? Die Strukturen der Macht? Feiern wir 1991 den Bundesrat? Oder zelebriere ich mich etwa selber?» Mir dieser an der Podiumsdiskussion der Solothurner Literaturtage erneut mit Bravour vorgetragenen, naiv-impertinenten Rhetorik schnorrt der Delegierte des Bundesrates, Marco Solari, unbeirrt und plump seine Jubelfeier zusammen. Noch vor zwei Monaten haben sogar Bundesräte um die Gunst der durch die Fichen wild gewordenen Kulturschaffenden geworben. In einem Referat in der Kartause Ittingen hielt Arnold Koller Ende März fest, Konflikte könnten zum «Motor» für die Fortentwicklung des Gemeinwesens werden – unter der Voraussetzung, dass sie nicht verdrängt, sondern im «teilnehmenden Gespräch» bewältigt würden. Dieser Aufgabe hätten sich alle – «namentlich auch die Kulturschaffenden» – zu stellen. (NZZ, 30.3.1990) Etwa zur gleichen Zeit hat sein Amtskollege Flavio Cotti den Kulturschaffenden Anne Cuneo und Adolf Muschg erklärt: «Jetzt hören wir, dass die Künstler und Intellektuellen sich zurückziehen, nicht mehr mitmachen wollen. […] Die Schweiz ist auf Sie angewiesen. damit in diesem Land etwas aufgebaut werden kann.» («Tages-Anzeiger», 4.4.1990) In diesen Tagen empfiehlt der Redaktor des PR-Blättchens «INFO 700», Franz Neff, die Einzelabreibung der verlorenen Schäfchen: «Der Boykott ist eine Kritik an der Schweiz. […] Umsomehr sollten wir streiten. Wir müssen auf der langen Liste die Unterzeichner aus der eigenen Region heraussuchen und sie zum Gespräch auffordern, einander an den Kopf werfen, was man schon immer mal loswerden wollte. Konflikte sichtbar machen und auch austragen. Viele müssen wohl erst streiten und zuhören lernen. So würde die 700-Jahr-Feier mit Sicherheit kein Fest für Knallfrösche.» (3/1990)

Im April sind die Kulturschaffenden die wohlfeilen paternalistischen Sprüche leid; sie lancieren den «Kulturboykott 700». Seither tönt die Obrigkeit ein wenig anders. Bei der Eröffnung der Zürcher Junifestwochen lässt sich Hans Wysling mit der professoralen Sentenz hören: «Schriftsteller sollen schreiben, nicht unterschreiben.» An den Managergesprächen in St. Gallen klagt Cotti darüber, dass aus diesem Land allmählich ein Volk der Zweifler und Selbstzerfleischer werde, in dem der politische Konsens immer schwieriger werde. Er habe Angst vor der «unheiligen Allianz von blinden Ökologen, Konservativen und Verhinderern aller Art». im Zusammenhang mit dem Kulturboykott spricht er jetzt von «beleidigten Überheblichkeiten». («Basler AZ», 29.5.1990)

Bisher am unverfrorensten hat der Zuger Stadtpräsident Othmar Kamer öffentlich signalisiert, wie die Obrigkeit den Kulturboykott bewältigen könnte. In Zug will man sich 1991 zur Feier des Jahres einen «Stadtbeobachter» halten, der «das Geschehen in der Stadt beobachten und die Eindrücke festhalten» soll. Kamer: «Es könnte schwierig werden, einen Stadtbeobachter zu finden, denn die Kulturboykott-Drohung ist vor allem von Schriftstellerinnen und Schriftstellern unterschrieben worden. Sollte dies der Fall sein, könnte auch ein Deutscher oder Österreicher diese Aufgabe übernehmen, in der Vorlage steht nirgends, dass es ein Schweizer sein muss.» («Luzerner Neuste Nachrichten», 15.5.1990)

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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