Aufgeklärte Angriffskriege

Ein freier Vormittag. Vor der Wohnungstür war ich noch nicht. Im Bürostuhl hängend trinke ich vor dem Bildschirm den zweiten Kaffee. Unterdessen diskutiert Ken Jepsen schon seit bald zwei Stunden mit der freien Journalistin Karin Leukefeld, Autorin des eben erschienen Buches «Flächenbrand: Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat». Das Gespräch, das die beiden führen, umkreist in weiten Volten den Status Quo in Syrien. Jetzt sagt Jepsen, der eloquente Schnellredner: «Was wir im Mittleren und Nahen Osten erleben, sind ja Beutezüge, um unser Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Aber das ist eben ein System, das auf Wachstum angewiesen ist, darum ist Wachstum ein positives Wort, in allen Parteien – Wachstum, damit das System überhaupt stabil bleiben kann.» Und dann fragt er: «Um zum globalen Frieden zu kommen, den sich ja die meisten Menschen wünschen: Wie weit müssen wir uns von diesem westlichen Wirtschaftssystem verabschieden?» Leukefeld antwortet: «Das müssen wir auf jeden Fall. Wir leben heute so, weil andere nichts haben. So einfach ist das. Und das ist bekannt. Das ist keine Ideologie, das ist eine Tatsache.» Drauf Jebsen: «Der Krieg ist der Vater aller Gier und damit aller Dinge.» Leukefeld: «Das bringt es schon ganz gut auf den Punkt.»

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Später ist vor dem Fenster Vorfrühling unter grauem Hochnebel. Ich ziehe die wärmeren Kleider an, löse mit dem Eisenbahn-App auf dem Handy ein Billett, gehe am Zentrum Paul Klee vorbei durch das Schosshaldenwäldchen hinüber zum Bahnhof Ostermundigen. Kurz darauf bin ich in Münsingen, gehe durch die Unterführung und die Sägegasse dorfauswärts und überquere eine Viertelstunde später die Autobahn. An der Aare ist das Ufergehölz noch winterlich kahl, am Boden bricht erstes schütteres Grün durch das letztjährige Laub. Mit ein bisschen Glück begegne ich heute ersten Frühblühern, Buschwindröschen, Lerchensporn, Huflattich, denke ich, und dann wieder an diese Vorlesung Foucaults.

Weil ich in der letzten Monatskolumne an dieser Stelle über den Begriff der Parrhesia einige Sätze hasardiert habe, lese ich unterdessen in jenen Vorlesungen, in denen Michel Foucault im Januar 1983 den Begriff in seinem Sinn zu entfalten begonnen hat.[1] Er ging von zwei kurzen Texten Kants aus, jenem zur Frage «Was ist Aufklärung?» und dem zweiten Abschnitt des «Streits der Fakultäten». Darin sucht Kant nach «Geschichtszeichen», die «Fortschritt» bedeuten, und fragt sich, worin eigentlich die «Teilnehmung» der «Zuschauer» liege, «die nahe an Enthusiasm grenzt», wenn sie die «Revolution eines geistreichen Volks» mitverfolgen. Kant führt diese an Begeisterung grenzende Anteilnahme auf «eine moralische Anlage im Menschengeschlecht» zurück, die zwei Ursachen habe: «Erstens die des Rechts, dass ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt; zweitens die des Zwecks (der zugleich Pflicht ist), dass diejenige Verfassung […] ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg […] zu meiden.»[2]

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Während ich auf den ersten zwei, drei Kilometern entlang eines renaturierten Nebenarms der Aare meinen Schritt suche, der mich in zügigem Tempo bei ruhigem Atem nach Bern bringt, fasziniert mich das Wort «Angriffskrieg» in diesem ziemlich abgehoben philosophierenden Zusammenhang erneut; dieses Argument, es sei in der Moral des Menschen ein Wille begründet, sich mit jenen, die er als die seinen betrachtet (im Text das «Volk») die politische Ordnung in einer Verfassung autonom festzuschreiben, die ihrer Natur nach den «Angriffskrieg» meide. Wobei er fortfährt: Damit dieses «Volk» befähigt werde zur Einsicht in seine «Rechte und Pflichten in Ansehung des Staates», benötige es die «Volksaufklärung», die zur Zeit, das heisst 1798, durch das staatliche «Verbot der Publizität» verhindert werde.[3]

Nach einer halben Stunde bin ich an der Hunzigebrügg. Jetzt drücken einige Sonnenstrahlen durch den Nebeldunst. Ich versuche, regelmässig in den Bauch zu atmen. Wenn es im Kopf zu sehr dreht, wird der Atem flacher und die Schritte werden kürzer. Aber wie gesagt, dieser «Angriffskrieg»: 1798, im Jahr, in dem Napoleon Ägypten angreift, stellt Kant fest, dass «Angriffskrieg» und Aufklärung nicht zusammengehen. Leuchtet ein: So wenig der bewaffnete Raubüberfall für den einzelnen Menschen am «Ausgang […] aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit»[3] eine aufklärerische Option ist, so wenig ist es der Angriffskrieg für ein «Volk». Einatmen. Ausatmen.

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Schnurgerade zieht sich der Fussweg auf dem Damm dahin. Rechts wird das Rauschen der Autobahn schwächer. Am unteren Ende der Kleinhöchstettenau fliesst die Giesse in die Aare. Hier hat das Wasser eine Kiesbank aufgeschüttet, auf der eine Weide steht. Mein Lieblingsplatz an dieser Strecke, mit weitem Blick flussabwärts, bei gutem Wetter begrenzt erst von der ersten Jurakette. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einerseits, klar, im Vergleich zu 1798 gibt es auf diesem Kontinent unbestreitbar demokratisch verfasste Staaten und eine unzensurierte multimediale Publizistik, die allenfalls so frei ist zu vergessen, dass sie die Freiheit seinerzeit erkämpft hat, um aufklären zu können. Andererseits engagieren sich diese scheinbar aufgeklärten Staaten als Vasallen in Angriffskriegen. Sie schicken Nachschub, Bomber und Truppen den Bombern des Imperiums hinterher.

Die Augutbrücke steht jetzt, bei Niedrigwasser, sehr hoch auf ihren Betonpfeilern. Aufgeklärte Angriffskriege aareabwärts ausatmen, frotzle ich vor mich hin und: Symbol dieser Bombardemente sind ferngesteuerte unbemannte Kampfdrohnen, mit denen das Imperium von der deutschen Ramstein Air Base aus in Afghanistan, Irak, Somalia, Jemen, Pakistan, Libyen, Syrien oder wo immer Orte in die Luft sprengen lässt, an denen seine elektronischen Überwachungssysteme «Terroristen» vermuten. Zumeist sterben bei diesen Angriffen unbeteiligte ZivilistInnen als Kollateralschäden, selbstverständlich auch Frauen und Kinder.

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À propos Kinder: Jedes Kind weiss, dass der Nahe und Mittlere Osten die Öl-Tankstelle der Weltwirtschaft ist und es mit Sicherheit noch um mehr und anderes geht als um einige Terroristen, wenn man Spitzenprodukte des militärisch-industriellen Komplexes in Stellung bringt. Offenbar geht es um Angriffskrieg. Die Bassins des Muribads noch ohne Wasser. Der Himmel unterdessen sehr grau. In der Luft vereinzelte Regentropfen. Einatmen. Bodenacker. Ausatmen. Elfenau. Einatmen. Rechts jetzt das Wildschweingehege des Dählhölzliparks, schau an: ein Wurf munterer Frischlinge unterwegs im Morast.

Selbstverständlich geht es um Angriffskrieg. Aber das begreifen nur die Kinder. Chefredaktionell wird die Leier der Empörung nicht wegen ein paar Kollateralschäden hervorgeholt, sondern dann, wenn sich welche den Sprengstoffgürtel umschnallen, um ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit zu setzen. Das geht für die liberalen Pfaffen natürlich gar nicht, dieser Gegenangriff auf ihre freie, friedliche und aufgeklärte Demokratie. Und ich bin froh, dass ihre Predigten auch meine Interessen schützen.

Gäste des Restaurants Dählhölzli sitzen in Mänteln mit Kaffee und Kuchen plaudernd unter den kahlen Rosskastanienbäumen. So sieht eben tiefer Frieden in der Provinz aus. Einatmen. Ausatmen. Vielleicht wissen auch das nur die Kinder: Der quasi-zivilen, industriellen Massenvernichtungsarbeit des Imperiums und seiner Vasallen entspricht der erweiterte Suizid von Fanatikern als politische Tat. Wo es Kampfdrohnen gibt, gibt es auch Selbstmordattentäter. Beide kämpfen im gleichen, asymmetrischen Krieg. Die einen für ein ehrenhaftes Leben im Jenseits (weil sie keines im Diesseits haben), die anderen für die Ressourcen im Diesseits (weil es kein Leben im Jenseits gibt). Entweder hat sich Kant mit dem Argument geirrt, dass dank der Aufklärung der Angriffskrieg vermieden werde oder die westeuropäischen Vasallendemokratien, die meine Erfahrungswelt bilden, sind wenn nicht vor-, dann gegenaufklärerische Projekte.

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Durch die Schwellenmattstrasse hinauf zur Kunsthalle und weiter durch die englischen Anlagen. Einatmen. Ausatmen. Wem soll man danken, wenn man mit zweiundsechzig zwei, drei Stunden vor sich hergehen kann, ohne dass die Beine müde werden? Zuhause lockere ich unter dem warmen Wasser der Dusche die Muskeln. Tief einatmen. Mehr als zehntausend Flüchtlinge sitzen in diesen Tagen im Morast von Idomeni an der mazedonischen Grenze, weil die Festung Europa für gut befunden hat, eines ihrer Tore zu schliessen. Ausatmen. Sauberes Wasser in den eigenen vier Wänden: Welch grossartige zivilisatorische Leistung, zu der ich nichts beigetragen habe.

Kurz darauf schlage ich am Schreibtisch die neue WOZ auf. Ihr liegt eine Beilage der Gruppe Décroissance Bern bei. Im Editorial lese ich: «Und gleichzeitig gründet der enorme Wohlstand von wenigen auf der Ausbeutung von vielen, was der Fortsetzung einer unrühmlichen Tradition der Kolonialzeit entspricht.» Darum müsse früher oder später «eine Ära des Postwachstums» eintreten (Nr. 23, März 2016).

Aufklärung heute, denke ich, würde vermutlich bedeuten, die Sache mit dem Postwachstum den US-amerikanischen Kampfdrohnen nachhaltig erklären zu können, weil die Köpfe, die sie steuern, so etwas nie werden verstehen dürfen. Ausser man zwänge sie. Dazu müsste man aber zuvor gegen sie einen Krieg gewinnen.

[1] Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2012, im folgenden S. 36 f.

[2] Immanuel Kant: Werke, Band 9. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1964, S. 358.

[3] Kant, a.a.O., 362 f.

[4] Kant, a.a.O., S. 53. 

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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