Après nous le paradis

Der schweizerische Spendenmarkt stagniert bei rund 1,5 Milliarden Franken. Zusätzlich umstritten ist er, weil noch immer mehr Gutes getan werden will und sich deshalb immer mehr Organisationen ein Stück vom Kuchen abschneiden wollen – übrigens auch vermehrt solche aus den Bereichen Bildung und Kultur, weil immer öfter die öffentlichen Gelder ausblieben. Das hat zur Folge, dass der Werbeaufwand pro Spende steigt und deren durchschnittliche Grösse sinkt (zwischen 1998 und 2003 um 37 auf 330 Franken).

Laut der Spendenstatistik 2002 der «Fachstelle für gemeinnützige, spendensammelnde Organisationen Zewo» tragen die von ihr zertifizierten rund 300 Organisationen Spenden in der Höhe von 600 bis 700 Millionen Franken zusammen. Die Tendenz ist klar: Die Bereiche Einzelspenden, institutionelle Spenden und Mitgliederbeiträge stagnieren oder sind rückläufig- Der einzige Bereich, der nachhaltig wächst, ist jener der Legate – von 2001 auf 2002 um 15 Millionen auf 90 Millionen Franken.

Die Entstehung der Legatspolitik

Legate sind testamentarisch verschriebene finanzielle oder andere Begünstigungen, unabhängig von ihrer genauen rechtlichen Form (zum Beispiel Alleinerbschaft, Erbanteil, Vermächtnis, Stiftungseinrichtung). Zurzeit werden in der Schweiz 0,75 bis 1 Prozent des Geldes, das vererbt wird, in Form von Legaten gemeinnützigen Organisationen zugedacht. Das ist wenig und viel: Das Gesamtvermögen aller in der Schweiz wohnenden Personen beträgt an die 750 Milliarden Franken. Tobias Bauer, der für das Büro Bass in Bern im Moment im Rahmen eines Nationalfondsprojekts am Thema «Erben in der Schweiz» arbeitet, schätzt, dass heute pro Jahr rund 25 Milliarden Franken vererbt werden – Tendenz steigend. Demnach gehen jährlich rund 200 Millionen Franken als Legate an gemeinnützige Organisationen, wobei ein demographischer Grund die steigende Tendenz noch verstärkt: Immer mehr Personen, die ihre Testamente schreiben, haben keine direkten Nachkommen.

Kein Wunder, dass die Legatssuche an Bedeutung gewinnt. Allerdings ist es delikat zu sagen: Vermach mir doch dein Geld, wenn du gestorben bist, denn hierzulande gehören das eigene Geld und der eigene Tod zu den grössten Tabus. Deshalb wird erst in jüngster Zeit über Methoden der Legatssuche gesprochen. In ihrem «Handbuch für Fundraiser auf Legatssuche» («Die Erbschaft für eine gute Sache», 2000) charakterisieren Bruno Fäh und Thomas B. Notter ihre Methode wie folgt: «Ihr Wesenselement ist, dass dem Gönner, dem Interessenten, Information und Motivation geboten werden, die ihn innerlich in die Lage versetzen, so weitgehendes Vertrauen zu einer Institution zu fassen und dieses zu einer Solidarität aufzuwerten, dass es schliesslich in einem Legat seinen Niederschlag findet.»

Hinter der Idee, Fundraising als nicht ganz uneigennützige Aufklärungsarbeit zu betreiben, steht folgende Tatsache: Anlässlich einer Umfrage des Forschungsinstituts GfS von 1998 gaben 72 Prozent der Befragten an, bisher weder ein Testament noch einen Erbvertrag verfasst zu haben – zumeist mit der Begründung, man sei noch zu jung und denke noch nicht ans Sterben. Es scheint also, dass heute weit mehr als die Hälfte der versterbenden Personen kein Testament hinterlässt und ihr Nachlass deshalb nach dem Erbrecht verteilt wird. Daraus schliessen Fäh und Otter: «Es besteht allgemein die Ansicht, dass eine gut geplante Promotion von Testamenten die beste Vorbereitung einer Legatssuche ist», wobei der «Kernpunkt jeder Legatspolitik die Bildung und Pflege von Vertrauen» sei.

Der Angriff auf die Tabus

So unterschiedlich die Klientel der einzelnen Organisationen ist, so unterschiedlich wird auch die «Promotion von Testamenten» betrieben. Die Schweizer Berghilfe zum Beispiel, deren Spendenaufkommen zu gut 60 Prozent aus Legaten besteht, betreibt «zurzeit kein spezifisches Legatsmarketing», wie der Verantwortliche, Daniel Bärtsch, sagt. Bisher seien die Reputation der Organisation und die von ihr realisierten Projekte genügend Motivation gewesen zur Vergabe von Legaten.

Weniger zurückhaltend ist die Caritas Schweiz. Bei ihr findet, so die Fundraiserin Irene Verdegaal, in Bezug auf die Legatspolitik zurzeit ein «Kulturwechsel in der Kommunikation» statt. Die Caritas-Homepage bietet seit einiger Zeit einen «Testament-Ratgeber» mit den Worten an: «Wenn Sie in Ihrem Testament ein Hilfswerk mit einem Legat berücksichtigen, können Sie die Lebensperspektive vieler weiterer Menschen verbessern.» Zudem hat man in diesem Jahr in Genf und Zürich Informationsveranstaltungen durchgeführt, an denen nicht nur über die aktuelle Auslandshilfe informiert wurde, sondern auch der Hausjurist referierte zur Frage, wie man ein Testament abfasst. Die Veranstaltungen, so Verdegaal, seien «auf grosses Interesse» gestossen.

Am offensivsten geht mit ihrer Inseratekampagne im Moment Greenpeace vor: Schwarzweissfotografien zeigen Kühltürme, abgeholzten Regenwald oder eine andere Umweltkatastrophe. Über das Bild geschrieben steht der Schriftzug: «Mein letzter Wille», das Bild selber ist mit blauem Filzstift durchgekreuzt. Darunter steht zum Beispiel: «Für den Schutz der Urwälder kann man sich ein Leben lang einsetzen. Oder auch länger. Möchten Sie Greenpeace in ihrem Testament berücksichtigen? Wir beantworten gerne ihre Fragen.»

Die Kampagnenverantwortliche Muriel Bonnardin sagt, auch Greenpeace sei beim Thema der Legate lange Zeit zurückhaltend gewesen. Eine Umfrage unter den Spendenden und Unterstützenden der Organisation habe dann aber 2003 ergeben, dass, wer sich für die Arbeit dieser Organisation interessiere, «geradliniges Vorgehen» schätze und es begrüsse, «wenn man offen redet». Die Zeitungskampagne habe die Umfrage bestätigt: «Es gab keine negativen Reaktionen.»

Für Cristina Muggiasca, Fundraiserin bei terre des hommes Schweiz in Basel, nimmt Greenpeace mit dieser Kampagne «eine Vorreiterrolle» ein. Obschon sie einen langsamen «Mentalitätswandel» beobachtet, sei es im Gegensatz zu den USA in der Schweiz immer noch schwierig, über das Geld und den Tod zu sprechen. In den USA sei es üblich, dass auch in Altersresidenzen Informationsveranstaltungen zu Legaten durchgeführt würden.

Stark schwankender Geldsegen

So willkommen und unverzichtbar Legate bei den Spenden sammelnden Organisationen sind, so heikel ist es, sie zu budgetieren: Über die letzten zehn Jahre gesehen seien die Einnahmen in diesem Bereich zwar langsam gestiegen, sagt Reinhard Brühwiler, Marketingleiter von WWF Schweiz, «aber Legatseinnahmen sind stark schwankend und absolut unplanbar. Wir nehmen sie als Geschenke und budgetieren jeweils nur ein Minimum». Tatsächlich konnte der WWF im Geschäftsjahr 2002/03 unter «Legaten» den spektakulären Betrag von 11,9 Millionen Franken ausweisen, ein Jahr später waren es dann aber nur 2,6 Millionen.

Schwierig zu beantworten ist die Frage, wer denn eigentlich Legate verschreibt. Als Tendenz ergibt sich, dass es Leute sind, die zu Lebzeiten bereits Mitglied der entsprechenden Organisation waren. Die Auswertung für die letzten zwölf Jahre ergab bei Greenpeace, dass immer mehr LegatgeberInnen zu Lebzeiten Mitglieder waren – zurzeit, so Bonnardin für Greenpace, liegt diese Quote bei 70 Prozent. Auch Brühwiler bestätigt für den WWF, dass «die Bindung zur Organisation von entscheidender Bedeutung» sei. Bei der Frage nach den Legatgebenden wird Maya Zinsli vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH am konkretesten: «Wer uns ein Legat verschreibt, gehört zur sozial engagierten Mittelklasse und steht politisch links – das SAH ist ja das einzige politische Hilfswerk der Schweiz.»

Einig sind sich die FundraiserInnen darin, dass der Legatsbereich, so sagt es Muggiasca, «der wachsende Spendenmarkt» ist. Tatsächlich kommt, wer Geld hat, nicht um die Frage herum: Warum es nach dem Tod nicht jemandem geben, dem man zutraut, dass er etwas Vernünftiges damit macht?

Die 2004 beschriebene Tendenz hält an. Die im Text erwähnte Zewo schreibt in ihrer Spendenstatistik 2017: «Zudem gewinnen die Vermächtnisse aus Erbschaften an Bedeutung. Vor zehn Jahren haben zertifizierte NPO [Non-Profit-Organisation, fl.] 110 Millionen Franken geerbt, im vergangenen Jahr bereits 162 Millionen Franken. Von zwanzig befragten Personen haben drei ein Testament gemacht. Jedes 14. Testament begünstigt eine gemeinnützige Organisation. Die Einnahmen aus Legaten dürften aus folgenden Gründen auch in Zukunft weiter zunehmen. Einerseits steigen die insgesamt vererbten Vermögen. Andererseits kann sich eine von vier Personen, die noch keine Vorkehrung für ihr Erbe getroffen hat, vorstellen, im Testament oder im Erbvertrag eine NPO zu berücksichtigen.» (16.12.2018)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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