«A NOUS LAMORT – LAMOUR»

An jenem «Tag der Poesie», am 27. März 1982, einem Samstag, ergreift der Kultursekretär der Stadt Bern, Peter J. Betts, draussen auf der Allmend das Wort zu Ehren des Poesiebaums, der dort der Erde übergeben werden soll, um der anwesenden Poesie-Gemeinde darzutun, dass dieser aus Kostengründen in der Umgebung von anderen Bäumen stehen müsse statt im Beton der Innenstadt, wo er als Zeichen zweifellos mehr Wirkung getan hätte. «Der Baum der Poesie steht nicht, wo alle anderen Bäume von selbst stehen, aber auch nicht, wo es das Ziel der militanteren Bäume sein muss zu stehen: Er steht im Niemandsland, daran erinnernd, dass es die Poesie gibt», sagt er.  Im Autonomen Jugendzentrum (AJZ) Reithalle zirkuliert an diesem Tag ein Flugblatt:«AUFRUF ZUR grössten DICHTERDEMO ALLER ZEITEN / ein gäg nur! / selbstverständlich ist demonstrieren verboten! / ebenso streiken leben und seikken / basta svizzera HA HA // POESIETAG / in aller ruhe / gedichte vorlesen / gedichte anhören / NEIN / heute nicht / SO NICHT / HEUTE IST UNRUHE / TAG DER RATTENPOETENRATTEN / NACHT DER PARADIESVÖGEL AM RANDE / ZEIT DER SPRENGSÄTZE / TIGERSPRUNG.»(1) Hier, im AJZ, gehen seit Wochen die Brandstifter um: Velos und Container brennen, Stadttheaterkulissen in dunklen Nebenräumen gehen in Flammen auf. Hier schieben Punks nächtelang Brandwachen; trotzdem fährt mit heulenden Sirenen fast täglich die Feuerwehr vor. Hier schiessen Unbekannte mit Steinschleudern auf Busse und Eisenbahnzüge; die Zeitungen hetzen (nicht nur auf den Leserbriefseiten); für die Stadtregierung wird hartes Durchgreifen täglich opportuner, die Einsatzdoktrin der Polizei lautet seit Tagen: «Jeder Flaschenwurf wird mit einer Tränengaspetarde beantwortet.» Hier findet heute der Tag der Poesie seinen Höhepunkt und Abschluss: Simon Vinkenoog, Christoph Derschau, Peter Baschung, Barbara Heinzius, Udo Breger lesen; Paul Ubana Jones und die Reithalle Band spielen, Ändu Flückiger moderiert, Stadt, Kanton und Pro Helvetia subventionieren. «heute / sind wir / die letzten mohikaner / dieser hauptstadt / die letzten, die die / WÜRDE DER RATTEN / noch/ nach fühlen/  mit leben / DESHALB WERDEN WIR NOCH HEUTE VON DEN ANDERN MENSCHEN DIESER STADT UMGEBRACHT.» Plötzlich Tränengas im überfüllten Dachstock der Reitschule, berstende Fensterscheiben, rauchendes Gift. Die Augen brennen, das Atmen sticht, panisch Schreiende an den engen Türen. Vor den Ausgängen kein Weiterkommen, aus der Dunkelheit Gummischrot auf alles, was sich bewegt, Petarden im Flachschuss. Die Leute  drängen rückwärts in den Innenhof, hustend und spuckend Treppen hoch in stockdunkle Nebenräume. Draussen jetzt splitternde Flaschen, beantwortet vom dumpfen Knall der Polizeigeschosse. Aus den Kleidern der Eingeschlossenen steigt Gas. Hier: tränenüberströmt, hilflos empört wie alle, die Flugblattschreiberin: Rösi Soussy-Stalder.

Knapp zwei Jahre vorher, am 28. Juni 1980, bei der als «Stadttheaterfest» angekündigten, ersten grossen Demonstration der «Berner Bewegung der Unzufriedenen», taucht sie auf dem Bärenplatz auf und hält eine Ansprache an Bewegte und Unbewegte:«Lüt! Fraget nech, was hei mir fürne Chance gäge die gwaltig grüschtete Polizeie u Armeeapparate. Mit üsnä blosse Füscht + Pflaschtersteine chöi mer sicher nüt mache. Mir müesse än angeri Sprach rede! Auso, Lüt, föt afa drufloslafere, singe, tanze, zeige u tue. Chömet use us dä Fabriggä, Betonchlötz u Universitäte. Lueget dür d’Riss düre, wos i dä Murä u dä schwarze Wulke het. De gseht dr de, dass es o no blaue Himu git!» – «Von den uns zur Verfügung stehenden Mitteln erachte ich den Einsatz von Tränengas als das humanste», begründete zwei Tage später der Einsatzleiter der Stadtpolizei, Armin Amherd, öffentlich die städtische Antwort auf dieses «Stadtheaterfest».

Von jetzt an gehört Rösi Soussy-Stalder zur Bewegung. Zwar redet sie wenig und mit wenigen, Persönliches kaum. Aber die Wörter werden ihre Waffe. Für ihre Flugblätter, auf denen sie eine assoziativ-verspielte Sprache entlang ihrer unversöhnlichen Gesellschaftskritik von Hintersinn zu Hintersinn taumeln lässt, stellt sie ihre Schreibmaschine auf die engste Zeilenschaltung:«Der Abschaum, resp. der Rahm (crème de la crème) isch suur, verdammt suur – sûr qu’il ne reste plus que l’Underground (welche Sprache wird denn schon verstanden), um nicht in der Masse der Übermenschen (schicksalhaft gelenkt vom Vorort der Götter) zu kapitalieren.» (16. September 1980) Ihre «Flugis», bitterböse Kommentare zu den aktuellen Ereignissen, sind auf A4-Papier kopierte Bleiwüsten, die sie in kleiner Auflage in den Gassen an jene verteilt, von denen sie gehört werden möchte: Bewegte und Unbewegte.

20. Oktober 1980: Karajan mit den Berliner Philharmonikern im Casino, Eintrittspreise bis zu 120 Franken, die Stadt subventioniert, die Bewegung protestiert (immer noch kein AJZ in Sicht), die Polizei tut ihre Pflicht (Sachschaden ca. 100000 Franken): «… zum defilierende gschtank vo de bönz / ds kulturbouquet par excellence / ihri grenadier u ihre karajan / schwär näbe mir verbi gschtiflet si si / ferngschtüüret / chopflos / chnüttu, gas u helme i de läderfüscht / d’vorörtler / d’furglerli…»

8. November 1980: Grosse Wohnungsnot-Demo. Rösi zieht mit, sammelt «chlüttermünz»: Katastrophenhilfe für Reagans Amerika. «auf der ach so schmalen kornhausbrücke widerfuhr dem blechbüchsenähnlichen sammelobjekt eine inflationäre hausse. 2x2 und 1x1 franken von verbindlich kooperierenden, vernünftigen mercedesfahrern, die zu spät ans hinaufkurbeln der scheiben gedacht. vile dank, thäänks, schischi schibidi!»

Weihnachten 1980, auf dem Flugblatt ein Weihnachtsbaum mit Ästen aus ätzenden Versen:«… vom himmler hoch da komm ich her / und bring euch hochsicherheitskonzentrationslager immer mehr / und in der krippe lag das nackte entsetzen / verschaukelte mutter, hör auf mit dem wiegenlied…» Der Baum wird von einem schwarzen Stern mit Wortgirlande gekrönt: «bin ich dunkel wie die stille nacht?»  Auf einem dieser Flugblätter, jenem, das sie dem alt Unipfarrer Hans K. Schmocker persönlich überreicht hat, findet sich die Notiz: «tschou, i ha se ar wienacht wölle verteile u ha nid chönne wägem brandschwarze loch…, rösi.»

21. Januar 1981: Treffen von Vertretern der Stadtregierung mit ungefähr zweihundert Bewegten in der Mattenturnhalle. Einziges Thema (wie seit Monaten): das geforderte AJZ. Die Begrüssungsansprache hält jedoch nicht der anwesende Stadtpräsident Werner Bircher, sondern, «müllernd»(2), die Rösi: «wärti abwäsendi/ äs fröit üs ganz ordentlech, i betone ordentlech, dass dir so zahlriich fernblibe sit. … mir vom gmeindrat si sälbschtverschtändlich gäge jedi form vo outonomi, das heisst, da dermit meine mir, das outonomi ä mordsgrossi sach isch, wo under gar keine umschtänd äm volk überlah darf wärde. u euch chindschöpf scho grad gar nid. outonomi ghört usschliesslich i d’händ vo ussergwöhnlich kompetänte lüt wi üs gmeindrät zum Bischpil». Bei dieser Gelegenheit werden die Leute der seit dem Dezember 1980 erscheinenden Berner Bewegungszeitung «Drahtzieher» auf sie aufmerksam. Sie stellt ihre Flugblattproduktion ein und beginnt bei der Zeitung mitzuarbeiten. Ihre Rede wird in der folgenden, dritten Ausgabe abgedruckt.

«da geit si i d ferie und macht so ne stei, oh yeah» / Leben auf Widerruf: «Ich weiss, fühle immer noch nicht, immer weniger, ob ich leben oder sterben will soll kann» (1974), überall nur provisorisch abgestiegen, überall fremd, überall unterwegs / «bin i stundelang i d ferie gfahre, glichmässig schnäll, über wäuzdistanze, gewäuzt worde, wäge eim glöste bilie am bahnhofschalter» / Berner Oberländerin aus Zweisimmen, geboren am 25. April 1948, Vater Coiffeur, Mutter Hausfrau, vier Geschwister, davon eine Schwester. Nach der Schule Welschlandaufenthalt in Vevey, Ausbildung zur Arztgehilfin ab 1966 in Spiez / «katapultiert worde bis es nüm isch wyter gange, bis a ds meer, je te salue vieil océan – vieil océan je te salue, lalü lalü» / Laborantin in Moutier, zwei Israelreisen, Anfang 1973: Selbstmordversuch («Je m’en suis allée, mais je ne vais tellement pas loin, peut-être seulement un peu plus près de vous, qui sait»), anschliessend Laborantin in Bern / «i chume nümm nache, i bi äuä nie niene a ort und stell mit mim permanänte seeleschmätter, klar han i der humor no nid verlore, klar lachen i über alles».

1975 bis 1977: Zwei Afrikareisen zusammen mit Maurice Soussy, dem späteren Ehemann, fast fünf Monate im Archipel der Comoren zwischen Madagaskar und dem afrikanischen Festland / «äbä z läbä, reklame, ä strassechrüzig, ä rummelplatz, vegas games, ä chirchturm mit der zyt u lüt ohni zyt, wo i kolonne gradus vor sich häre haschte, i schreiend gälbe gummiazüg gäge räge, gäge ds läbe. iu, äs geit äuä aune überall glich verschisse» / Zurück in Bern, neuer Arbeitsplatz als Laborantin in Thun. Heirat im Herbst 1977. Einfache Mansardenwohnung in der Berner Lorraine, kaum Möbel, man sitzt am Boden, ein Tischchen mit dem Lebensmittelvorrat, ein kleiner Kocher, Lavabo und Toilette auf dem Gang, kein Telefon. Tischlerlehre von Maurice Soussy,  der gemeinsame  Traum: Bau eines Schiffes und Rückkehr nach Afrika / «iz bin i scho tagelang i de ferie, u cha nid vergässe, das i söu vergässe, au fond d’un train d’oubli, mues es gäng so si, gäng dür di glich strass dürab, gäng di glich gschicht dürab, gäng glich» / Versucht ab 1980 Berufsarbeit und Gassenaktivitäten in der Bewegung strikt auseinanderzuhalten; nach einer Festnahme fliegt ihr Doppelleben auf: sie wird von der Polizei beim Arbeitgeber denunziert/ «stundelang am meer allei uf emene stei, luegen i i ds wasser, äs bewegt sich hin und här, geit hin und hin und hin, DAHIN, äs ödet mi a, i öde mi a, alles ödet mi a, ou du meer, dri gheie, das wärs» / Während der Demonstration vom 20. September 1980 gehen beim «Schweizerhof» mehrere Scheiben zu Bruch; Rösi allerdings lässt lediglich symbolisch eine selbst mitgebrachte Scheibe splittern, indem sie sie ins Entrée des Nobelhotels schmeisst. Auf die Brüstung der Lorrainebrücke sprayt sie: «HEUTE SPRENGUNG DIESER BRÜCKE». Ihre Kleiderdiebstähle in Boutiquen begründet sie politisch / «da isch si zrügg us de ferie u macht so ne stei, oh yeah» / für 1982 trifft das Ehepaar Soussy-Stalder Vorbereitungen für die lange geplante neuerliche Afrikareise /…

Ende Januar 1981 ist in den Gassen Berns das Filmteam von Remo Legnazzi und Clemens Klopfenstein mit den Dreharbeiten zu «E nachtlang Füürland» beschäftigt. Protagonist in diesem Film ist Max Rüdlinger, der als Nachrichtensprecher Max Gfeller eine lange Nacht lang von Altstadtbeiz zu Altstadtbeiz zu ziehen hat. Auf Empfehlung Rüdlingers wird für eine Episode im «Quick» Rösi Soussy-Stalder vorgesehen. Wie er auf sie gekommen sei, weiss Rüdlinger heute nicht mehr: «Ich weiss nur noch, dass sie, wie ich, Flugblätter gemacht hat und wie ich an den Demos jeweils als Lonely Cowboy eingefedert ist.» Zur «Quick»-Szene sagt Legnazzi:«Die Idee war: Der Mäxu kommt herein, und eine fremde Frau muss ihm ihren ganzen Frust in irgendeiner Form an den Gring pänggle. Inhaltlich war nichts vorgegeben, lediglich die Stimmung war klar. Schwierig ist dann gewesen, dass die Rösi irgendwie zu liebenswürdig auf den Max eingegangen ist. Sie spielte in dieser Szene nicht eine Fremde, sondern eine alte Bekannte.» Diese Kritik hat die Laiendarstellerin bereits am 30. Januar 1980 in ihren tagebuchartigen Notizen festgehalten: «Der Remo het gseit, i sig wines Ischbärgschpitzli, wo uftouchi u grad wider undertouchi. Im Film bruchi är meh Grund, meh Warum und Wiso.» Was sie damals gewollt hätte: «Öppis wi mi sälber hätt i i die Bild- und Tonchischte ine wölle schpinne.» Die Aufnahmen der «Quick»-Szene mit Rüdlinger und Soussy-Stalder wurden nicht verwendet. Sowohl die Filmrollen als auch die Tonmitschnitte sind vernichtet worden.

Jetzt schreibt sie für den «Drahtzieher», die auffällig Geschminkte mit dem seitlich gezopften Haar, die Wortzauberin, Klauberin, die sich gern als «la zizanie», die Zwietracht, bezeichnet – jetzt schreibt sie und unterzeichnet ihre Texte mit «Rösi di Bösi», mit «Wälleli», «neu rose in blau», «neu rose in schwarz»;  später mit «wasser liebende neu rosen weinen (nicht) / von wasser lebende neu rosen kämpfen».

Ihren ersten Kommentar widmet sie im Frühling 1981 den beiden Amokschützen, Bezirksanwalt René Ramer (Zürich) und Fürsprecher Georges Schild (Bern), die beide auf Bewegte geschossen (und getroffen) haben: «die mondnacht verspiegelt sich am blanken hohn eurer glaswände villen geschäfte reihen. allein eure toten augen spiegeln sich nirgends mehr, schon lange nicht mehr. verdammt und verschlossen schlaft ihr in euren hohlen leeren todesstätten. ferne des schlafes. geisterstädte des kleinlichen grössenwahns. wunschlose träume, die um eure nächtlichen unwirklichkeiten geistern, entgeistert, im ruchlosen schein der höllisch rasselnden produktionsketten (mini närve!). nein, die nächste nacht und die nächste sonne sind nicht euer. A NOUS LAMORT – LAMOUR.»

Am 21. Mai wagen sich die Gemeinderäte Heinz Bratschi und Marco Albisetti an eine Vollversammlung im mittlerweile durch Besetzung erkämpften provisorischen AJZ an der Taubenstrasse 12. Getreulich rapportiert die Chronistin:«fazzoletti faselte etwas unklares von einhalten klarer spielregeln (oh yeah, let’s play the game to go insane) und von gegenständen oder schleuderähnlichem, die vom provisorische AJZ wegflögen, nein fazzo, da weigere ich mich, darauf näher einzugehen, da bleibt nur noch die feststellung: die sprache hat versagt.»

17. Juni: Mitgliederversammlung der Genossenschaft Schütti, einer Alternativbeiz, in der eine Fraktion für einen «gemütlichen Kulturtreffpunkt» plädiert: «was soll denn das! gemütliches kaputtsein, gemütliche kulturleichen, GEMÜTLICHE BEWEGUNG! (…) eines lasst euch gesagt sein: in der schütti, bei uns, wird gestürmt und geschüttelt, was das zeug hält, das ist so, ist nicht zu ändern. helft alle mit, denn die stadt, der staat, die macht sollen durch und durch geschüttelt werden! es ist an der zeit / an uns!»

Im Sommer 1981, nach einem Jahr der anarchischen Unberechenbarkeit der Bewegten, gelingt es der Berner Obrigkeit, die Befriedung einzuleiten, indem sie für den Herbst die seit vielen Jahren verlotternden Stallungen der ehemaligen Reitschule beim Berner Hauptbahnhof als AJZ in Aussicht stellt und einen Teil der Widerspenstigen (gegen Stundenlohn) gleich in die Renovationsarbeiten einbindet.

Für Rösi ist der schroffe Alles-oder-nichts-Gestus der Bewegungssprache kein rhetorisches Happening. Das, wovon die andern nur reden, will sie:«HEUTE DAS AJZ / MORGEN DAS SONNENSYSTEM / SUBITO / SÜSCH TÄTSCHT’S!» – Silvia Buser-Stalder, Schwester und engste Vertraute von Rösi, erinnert sich:«Sie fühlte sich dann verheizt. Sie hat erzählt, in der Bewegung gebe es viel zu viele Herrensöhnchen, die sich lediglich ihre Zeit vertreiben würden, Dräckseckle. Keiner wolle sich richtig engagieren. Diese Menschen wollten gar nichts verändern.»

Als die Bewegten vom 16. bis zum 18. Oktober 1981 mit einem Kulturfest euphorisch ihr AJZ einweihen, ist sie als Beobachterin am Rand und «Drahtzieher»-Berichterstatterin dabei. Sie hält fest, «das feierliche der stunde der feier». sei «unvergleichlich harmonisch» gewesen. Sie findet «die verhärtete, seelenlose scheibeneintätschjugend in tränen der dankbarkeit und tiefen freude aufgelöst» und kommentiert, es sei «einfach eindrücklich, die feiertags- und feierabendstimmung im gesamten der sonst eindringlich bornierten versteigerung, äh weigerung.» AJZ? «vaterländischer fluch», «kahle, leere räume, sichtspuren eines strohfeuers». Der wilde Traum von 1980 blitzt, ins Apokalyptische gewendet, nur noch kurz auf: «gesetzlos / feuer wie anarchie und liebe / verheerende städte in flammen / amen / züri brännt / bern as burn. äänd». Der Text schliesst:«ob es das sei, was ich habe sagen wollen». Und, lakonisch:«rien à dire.»

Mit der Eröffnung des AJZ haben die Berner Beamtenkinder eine Nische, von der sie sich einen Winter lang einbilden dürfen, in ihr verstecke sich irgendwie die geheimnisvolle «autonomie und wie ich auf’s auto kam (marke mercedes benz), äh unter’s. bleibt die ewig lange leere.» Wer im folgenden Winter in Bern den ursprünglich gesamtgesellschaftlichen Horizont des bewegten Aufbruchs nicht vergessen will oder kann, ist sehr allein. «chasch nid vergässe / vergissisches nie / nachtfalter / plieur de nuit / ‘lieben heisst kämpfen’ / mit em schwarze halstuech vor em gsicht / legal / illegal / scheissegal». Im gleichen Text:«mit em schwarze halstuech vor em gsicht chlagsch di schuldige a / chlagsch di mächtige a / bringsch se um», und: «lieben heisst ou no gärn ha».

Drei Wochen nach dem Poesietag, an dem die «grösste DICHTERDEMO ALLER ZEITEN» nicht stattgefunden hat, am 16. April 1982, wird das AJZ geräumt und danach elf Monate lang hinter Stacheldrahtrollen von Polizeigrenadieren bewacht. Damit ist die Jugendrevolte niedergeschlagen.

«ja, aber wo blibe die spinnende sidefäde, wo bis zum schmätterling verfüehre / wo si di stunende ouge-blicke, wo bis zu de stärne gö u no vil vil wyter, bis i ds innerschte vom härz / wo blibe di glänzige steindli i de dunkle tannewälder / wo gits no sümpf wo d’irrliechtli chöi umenangstürme / wo hange si im moor wo flüge si, d’lüchtchäferli / wo schwäbe si wi grüeni latärnli über der wüeschti / wo si di wachsende zitroneböimli / wo blibe di wunderschöne nachtfalter, wo blibe si
wo siter, he d’ihr, wo siter
wo bisch du, he wo bisch, wo bisch
nachtfalter? lichtschalter in treppenhäusern!» («Drahtzieher», 24/1982) «…/ das dossier kann geschlossen werden. / gigantische leere im kosmos entdeckt. / es war sehr hart.» (aus:«fastnacht», März 1982, dokumentiert in REFORMATIO 5/6, 1989).

…/Plötzlich will Rösi doch nicht nach Afrika, lässt Maurice vorausfahren. Als er am 12. Juli 1982 abreist, versucht sie kurz darauf, von der Lorrainebrücke zu springen/«Wenn ich auf einer hohen Brücke stehe und denke, dass es eingesperrte Adler gibt…, dann will ich, dass die Brücke sich zerstört» («HEUTE SPRENGUNG DIESER BRÜCKE)» / sie wird zurückgehalten und vom sozialpsychiatrischen Dienst ambulant betreut / «Einmal, als sie mir Texte gezeigt hat aus dem ‘Drahtzieher’, habe ich zu ihr gesagt: ‘Du hättest Künstlerin werden sollen.’ Sie hat darauf gesagt:‘Was, i hätt söue? I by doch e Künschtlerin.’» (Christian Bühler, ein langjähriger Bekannter) / Am 31. Juli 1982 wird sie in Bern zum letzten Mal gesehen. / «Ich will niemals die Liebe als Trost! Meine Liebe ist Wahnsinn, Schönheit, Trauer.»/ Vermutliches Datum des Selbstmords: 1. August 1982. / «ICH HASSE DIESE NAZION UND ALLE NAZIONEN» / «Bei uns in Zweisimmen haben wir immer gesagt: ‘Wir Stalders können schwimmen wie die Wettsteine.’» (Silvia Buser-Stalder) / Der 1. August 1982 war regnerisch und trüb, ein Sprung über die Wettsteinbrücke in Basel wäre nicht weiter aufgefallen; ihre Leiche treibt rheinabwärts / «HEIMATLAND NEIN DANKE» / Laut Obduktionsbericht ist Rösi nicht ertrunken, sie sei beim Aufprall aufs Wasser getötet worden (grossflächige Quetschungen am Rücken: sie liess sich offenbar rücklings ins Leere fallen) / «In den Holzgriff ihres Regenschirms hat Rösi zwei Wörter gekratzt: ‘l’amour’ und ‘la mort’» (Silvia Buser-Stalder) /«Aus dem Rhein beim Kraftwerk Kembs (F) ist die Leiche einer 18-25jährigen Frau geborgen worden. Hinweise, die zur Identifizierung dienen könnten, nimmt jeder Polizeiposten oder der Fahndungsdienst (Telefon 25 71 60) entgegen.» («Basler Zeitung», 12.8.82) / Annerös Soussy-Stalder (1948-1982) liegt in Zweisimmen in ewiger Quarantäne begraben: Aus seuchenpolizeilichen Gründen wurde die aus dem Ausland überführte Tote in einen Bleisarg gesperrt und einen Meter tiefer vergraben als die gewöhnlichen Toten ihres Heimatlandes.

jetz, wo’D nümm da bisch

i gseh Di no hocke:
im lääre fänschter vom schtägehuus
ar tubeschtraass: eis chnöi hesch aazoge
d’haar zum e ne zopf uf dr sitte gknüpft
wägg hesch ggluegt
vo üüs
wär so elei isch
blibt’s

i gseh Di no schtah:
a dr theke ir rithalle
a üsne demos mit Dine flugis
– SCHPRÄNGSÄTZ –
im tränegas zwüsche üser verzwiflig
z’türfüre hesch ggluegt:
wägg hesch ggluegt
vo üüs
u d’wäut het sech nid wöuen ändere
nume miir

i gseh Di no loufe
düre schneematsch über d’schützematte
i suechi e wonig, han i gseit
u Du hesch gglachet
wyt wyt voruus bisch ggloufe
u einisch hesch Di umgkehrt
zrügg hesch ggluegt
üüs hesch gsuecht
da hesch niemer me gseh

niemer heig Di chönne häbe
säge mer itze
aber kene het sech so witt füre ggwaagt
wi Du»

(1) Alle kursiv gesetzten Zitate stammen aus «Drahtzieher»-Artikeln, Flugblättern oder dem handschriftlichen Nachlass von Rösi Soussy-Stalder.

(2) Der Begriff «müllern» geht auf die Diskussionssendung «CH-Magazin» des Schweizer Fernsehens vom 15. Juni 1980. In dieser Sendung traten unter den Pseudonymen Anna und Hans Müller zwei Jugendbewegte und brachten zwei Regierungsmitglieder und den Polizeikommandanten der Stadt nachhaltig aus der Fassung, weil sie in einem paradoxen Rollenspiel unnachgiebiges Vorgehen der Staatsgewalt gegen jene forderten, die sie eigentlich hätten vertreten sollen. 

Das abschliessene Gedicht war meine persönliche Hommage an Rösi, abgedruckt in DRAHTZIEHER 24/1982. –  Der Nachlass von Annerös Soussy-Stalder wird von ihrer Schwester Silvia Buser-Stalder aufbewahrt. Es handelt sich um ein umfangreiches Konvolut handschriftlicher, tagebuchartiger Notizen, das gesichtet und transkribiert werden müsste. Zu entdecken wäre – davon gehe ich aus – eine Dichterin.

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 213-224. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

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