III

«Der Glur?» – Da war ein Rädchen zuviel im Kopf,

Bei diesem Mann. Ein komischer Kauz, ein Arzt,

Verkrachte Existenz, Verfasser

Zahlreicher Bücher, Chronist des Dorfes.

 

Die Kirchenmauer ziert eine Tafel, die

Erinnert: Glur, getauft hier im Dorf, am Tag

Bevor Napoleon Bern besetzte,

Schüler der Mönche im Kloster hinter

 

Der Rot, dem Grenzbach. Später Student in Bern,

Berlin, Paris, dann Rückkehr ins Dorf als Arzt

Mit eigner Praxis. Heirat, Kinder –

Und eine Welt, die verbessert sein muss.

 

Er postuliert: «Die Kenntnis der Heimat steht

Am Anfang jedes Dienstes am Vaterort»

Und predigt feurig seinen Dörflern:

«Sie ist die Weihe des wahren Volksfreunds.»

 

Er forscht, entziffert, sammelt und deutet aus,

Vertieft sich in die Vorzeit und formuliert

Mit schroffem Urteil. Rasch gekränkt und

Ärgerlich liest man dann seine Chronik,

 

Verbietet Glur den Zugang zum Dorfarchiv,

Entlässt ihn grollend aus dem Gemeinderat

Und meidet fleissig seine Praxis.

Dann stirbt die Frau. Übereilte Heirat,

 

Skandal der Scheidung, Geldsorgen, Kinderlärm.

«Da sieht mans», heissts im Dorf und misstraut erst recht

Dem Wortgeklingel Johann Glurs von

«Aufklärung», «Christentum», «Bildung», «Freiheit».

 

Dann wird die Rot zur Front und die Stadt Luzern

Zum Hort der Reaktion. Das Fanal des Streits:

Die Jesuitenfrage. Glur ist

Siebenundvierzig. Er ruft zum Kampf, und

 

Mit dreissig Dörflern zieht er als Feldarzt los

Zum wilden Zug der Freischaren an die Reuss,

Gerät nach Stunden Marschs ins Feuer,

Flieht wie die andern erschöpft und kopflos:

 

Vor Altbüron gestellt und nach Willisau

Geführt als Kriegsgefangner, beschimpft als Glur,

«Der Rädelsführer z’Roggel unten!»,

Freigekauft später von Berns Regierung.

 

Als erster ausgezogen, zurückgekehrt

Als letzter und geschlagen. Die Sieger sind

Zwar antijesuitisch, aber

Nicht radikal wird die Schweiz der Zukunft.

 

Zuhaus die dritte Frau und in siebzehn Jahrn,

Erneut neun Kinder. Dann holt der Tod auch sie.

An weitern, selbstverlegten eignen

Schriften verarmt er dann schliesslich völlig.

 

Im Spätherbst neunundfünfzig zieht Doktor Glur

Ins nunmehr leere Kloster Sankt Urban. Hier,

Am Ort vertriebner Lehrer, will er

Seine Memoiren verfassen. Dies wird

 

Sein letzter eitler Traum: Er erkrankt und stirbt

Schon bald nach einem Krankenbesuch. Das Dorf

hat ihm gedacht als eines Wirrkopfs.

Mir ist er Bruder im Geist geworden.

 

[29.-31.7.1999; 11.4.2001]

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