I

 

[125]

fabel

 

wie stumm und ohne perspektive

sind unsere jungen

 

sinnierten die fische

 

als jene sich anschickten

amphibisch zu leben

(1981)

 

[126]

vater ach vater

 

mutter ach mutter: warum ist

der Vater fort seit

meiner geburt?

 

kind ach kind: dein vater baut für dich

die grosse die neue die schnur

gerade allee

 

mutter ach mutter: was tut

der vater beim bau der

schnurgeraden allee?

 

er planiert und begradigt holzt ab ebnet

ein hebt aus und füllt auf stellt

ins lot und sprengt weg

 

mutter ach mutter: warum macht

der vater für mich so

vieles kaputt?

 

kind ach kind: dass du nicht mehr fragst:

nicht mehr suchst: nicht mehr 

weisst: darum

 

mutter ach mutter: sag meinem vater: wenn du

ihn siehst: am ende der schnurgeraden

allee steht der tod

(6.1981; 2.7.1981; 24.12.1981)

 

[127]

elegie

 

I

mein zorn schliert über meinen

blick: selbstgenügsam

dulde ich eisblumen

auf der brille

 

als unbeweisbarer rauch

verwehen worte vor

dem mund

 

der kopf füllt sich mit schnee

an bauch und hüften

wächst eis:

 

eis in der hand ist besser als sprudelndes

wasser in trugbildern: schon

glaube ich den warnenden 

hetzern gegen

eisbrecher

 

II

manchmal hacke ich

löcher ins eis

 

lange blaugläserne stollen (geduldig

treibend auf knien)

münden im sprach

losen blick

hinaus

 

noch schlägt der wind zwischen

verbreitetem packeis

wellen ans

ufer

 

doch oben wachsen die gletscher:

überwuchern vereisend

sonne und wind

 

[128]

III

nun also werde ich langsam

einer der euren: eis

ige lichter

 

niemand erfriert ja: passt

er sich an: der herr

schenden kälte

 

andere aber bauen auf wanderndem

eis feuer

stellen

 

diese schlagen funken

aus ihrem zorn

(11.1.1981; 24.12.1981)

 

[129]

advent 80

 

«Aber ich gestehe auch: Das Wissen um die Möglichkeit, mir selber den Tod geben zu können, das mich noch vor einigen Jahren entsetzt hat, ist mir heute tröstlich geworden.» (Walter Hollstein, BaZ 20.12.1980)

 

am 12. dezember eine frau

eine frau mit benzin

am 12. dezember

 

am bellevueplatz in zürich mit benzin

mit benzin sich übergossen

am bellevueplatz

 

die kleider sich übergossen über

gossen und angezündet 

die kleider

 

hände und augen angezündet

angezündet verbrannt

augen und hände

 

schmerz und freude verbrannt

verbrannt am 12. dezember

freude und schmerz

 

am 12. dezember

 

«Seit Silvias Selbstverbrennung haben auf dem Bellevue weitere Jugendliche versucht, ihrem Leben durch Selbstverbrennung ein Ende zu setzen.» (TaM, 24.1.1981)

(22.12.1980; 24.12.1981)

 

[130]

erreicht den mordenden stein

 

 

«…die wilde Klage/ Ihrer zerbrochenen Münder» (Georg Trakl)

 

 

zusammen schlägt über schlägt über den sinkenden köpfen

den nickenden nacken zusammen zusammen der

stein der mordende stein der mordende

mordende stein schlägt zusammen

schlägt über die sinkenden

köpfe die nickenden

nacken schlägt

über schlägt

zu

 

schlägt zu schlägt über schlägt wachsendes weinen in

wuchernde wuchernde wände wächst wildere

klage aus unsern zerbrochenen mündern

wächst wachsendes weinen wächst wil

dere klage über nickende nacken

ergebne erstarrung sinkende

sinkende köpfe klage kla ge

kla zerbrochener münder

erstarrende klage

erstarrende 

hand

 

erstarrt

erwachend in

wachend in meiner

erwachenden hand glüht

der stein glüht der stein ü

ber sinkende sinkende köpfe

erwacht erwacht der glühende

stein fliegt splittert erreicht erreicht

erreicht die gläserne gleissende glänz

ende grenze erreicht erreicht den mord

enden stein erreicht zerbirst fliegt splittert

zerbirst die glänzende gläserne gleissenden gren

 

[131]

ze er fliegt der glühende stein fliegt splittert zerb

irst die ergebne erstarrung der nickenden na

cken der sinkenden köpfe das wildere

weinen das wachsende wei

nen zebrochener

münder

(2.7.1981; 24.12.1981)

 

[132]

gesang der geister über den wasserwerfern

 

wir haben sie mit billigem weinweibundgesang vergewaltigt

wir haben sie mit den trümpfen unserer weitsicht erstochen

wir haben sie mit unserem wissenundgewissen gevierteilt

wir haben sie mit freiheitgleichheitbrüderlichkeit erwürgt

wir haben sie in unserem lebenssinnundgeist vergast

wir haben sie in unseren schulendeslebens gerädert

wir haben sie an heimatundvaterland gekreuzigt

wir haben sie mit glaubeliebehoffnung vergiftet

wir haben sie mit unserer zukunft erschlagen

wir haben sie mit unserem geld erschossen

 

wir haben sie nach unserem bilde geformt

 

wir haben unser bestes gegeben

unsere geduld ist zu ende

wir fordern ein hartes

durchgreifen

(18./19.12.1980)

 

[133]

demonstration

 

aus den verdeckten kanälen versteckten kehrichts

steigen verdreckte ratten empor: verstreuen

verrecktes und kotigen schmutz auf die

gleissenden anfahrtspisten

der massenmörder

 

die flüchtigen schatten machen die kehrseite des

paradieses unübersehbar: bis zum äussersten

wehren sich die steinquaderschleppenden

sklaven für die pyramiden

des wahnsinns

 

wo die ratten sich zeigen und den dreck

der oberirdischen: erscheinen selbst

ernannte rattenfänger: schlagen

zu in winkeln und

gassen

 

seit tagen bewachen gelangweilte strassenwischer

von staates wegen die senklöcher mit maschinen

pistolen: aus der tiefe schalt zur leier

die stimme des klagenden orpheus:

«RENDETEMI IL MIO BEN»

 

zwischen das gellen von schüssen und schlägen schrillt der ratten

parole: HAMELN LIEGT ABSEITS ALLER KARTEN:

schauert der fluch: INTER FAECES ET URINAM

NASCIMUR/ ABER WORIN MÜSSEN

WIR LEBEN

 

für ihre tagesaktuellen heiligenbilder tunken die

melancholischen hofnarrn der pyramiden

bauer ihre pinsel in den diskret bluten

den rinnsalen: die vor ihren mal

erischen ateliers fliessen

 

tragisch verschleierten blickes verteilen

die buchhalter der geldakkumulierer

kulturförderpreise für die form

ale bewältigung des

fliessenden bluts

(7.-9.12.1981)

 

[134]

kindersterben

 

die warnenden sirenen liegen zerschellt auf kahlen

dachterassen: über den dächern schwebt

suchend der eiserne klöppel: nach

der verlorenen sturmglocke

 

die eingänge zugemauert: die fenster

vernagelt: die dächer verstärkt:

die keller ausgehöhlt bis

zum erdmittelpunkt

 

in den strassenlampen steht schwarzes

licht: hechelnd erliegt der wind:

der himmel ergreift

die flucht

 

in gestauten bachbetten steht

das faulende wasser

entlang der

stadt

 

asphalt weint: beton stöhnt: mauer

werk flüstert: die geheimen

verkabelungen koll

abieren

 

in ritzen und spalten blinken gefährlich die

scherenfernrohre: wachablösungen

erschrecken als blosses

gerücht

 

mit nackten händen tragen die irrenden

kinder ihr letztes feuer

durch die toten

strassen

(22.12.1981)

v11.5