Amor mundi

 

I

 

Die singt ja…

Die Alte am Stock singt.

 

Steht am Rand des Kieswegs

hinunter zum Altersheim

und singt.

 

Steht, bedeckt von einem weissen Kopftuch,

in blauem Gewand, vor dem abgeernteten,

dem umgepflügten Feld

und singt.

 

Singt über diese fadengraden

Schollenlinien, in den

grauverhangnen Herbsttag –

singt rauh und monoton

die fremde Melodie sechs

Töne aufwärts, sechs herab –

Singt in den immer wieder

neu gespannten Bogen kaum

geformte Wörter aus einer andern Welt,

aus einer anderen Zeit.

 

Ich gehe stumm vorüber,

würde gerne stehen bleiben,

lauschen, kurz und aus Respekt

halb abgewendet – doch

bin ich dazu nicht befugt.

Nur scheu im Weitergehen werf ich

einen Blick zurück: Da steht,

geschützt allein von ihrem Kopftuch

über ihrem Stock sehr aufrecht

diese fremde Frau,

von allem abgewendet,

singt.

 

II [1]

 

Es war ein knappes Jahr nach dem Tod von Heinrich

Blücher, dem Lebenspartner von Hannah Arendt.

Sie hatte damals eine Freundin zu Besuch

und gab ihr, für deren Spaziergang durch New York,

den Wohnungsschlüssel mit, der zuvor Blüchers war.

 

Als die Freundin vom Spaziergang zurückkehrte

und mit dem Schlüssel die Wohnungstüre öffnete,

sass Arendt eben mit einem ihrer Studenten

im Wohnzimmer, vertieft in eine Diskussion.

 

Kaum auf das altvertraute Geräusch achtend

rief sie in den Flur, was sie bei dieser Gelegenheit

doch stets in den Flur gerufen hatte: «Heinrich,

lass deine Galoschen an der Türe stehen.»

 

Gleich danach, berichtet ihre Biografin, habe

Hannah Arendt aufgestöhnt, sei für einen Moment

in ihrem Stuhl zusammengesunken, bevor sie

die Diskussion wieder aufgenommen habe. 

 

[1] Vgl. Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. (Fischer Verlag) 20112, 593 f. 

(30.9. + 19.10.2012; 12.9.2013)

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