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angelus novus
noch gibt es einen fahrplan eine tagesschau und
eine mittwochspressekonferenz des bundesrats
noch gibt es eine ordnung in den katastrophennews
nach kontinenten und nach anzahl toten
noch gibt es aber auch den feierabend und das recht
nicht hinzuschaun und wegzuhören
wir prosten mit dem bessern wein
auf unsre unversehrtheit schaun befremdet weg
wenn jemand bleich geworden
rückwärts tastet nach dem stuhl
und sagt: die wirklichkeit ist schräg
ins unsagbare weggerutscht
und achtlos halten wir
die leeren gläser hin
die uns ein engel nachfüllt
während er im sturmwind
unsrer plauderworte rückwärts
aus dem raum getrieben wird
(2001)
[103]
alles wird gut
sieh all die grau gekleideten propheten
die in die mikrofone tiefstgefasste
menschenfreundlichkeiten sprechen:
hör was sie alles wissen und bedenken
und wie die welt in ihren reden
sich freut von nun an gut zu sein
und sieh die augen all der lauschenden
sieh wie sie dürsten nach dem wort
das man in ihre köpfe senkt
und dankbar nicken ob der dunkelheiten
aus denen blitze fahrn auf alles
was ihre welt am gutsein hindert
und sieh die wörter: diese lautgebärden
dieses feingestimmte kehlgeräusch
des tieres mensch: wie weit es reicht:
kaum übers knurren fauchen bellen
und übers winseln nie: es reicht
nicht an die welt hinan
(2001)
[104]
beim rasenmähen
…bricht immer und immer
ab: das reden verunklart im zeigen und deuten
und meinen.
kein lehren hilft ja. zu lernen
ist nichts. nur befehl hilft gehorchen. erbaut
sind die steinernen schluchten die pisten des sinns
konstruiert zweck und grund sind erfunden
rasend vollzieht sich der lauf
der erzwungenen dinge.
so ists. erwartet wird
gleichgültigkeit. ansonsten gilt freiheit des worts und
die wahrheit der landestopographie.
In kehrrichtsäcken
am strassenrand stehen die gestrigen
widerworte. stand hält allein noch das schauen.
am wegrand der huflattich und der nachbar am fenster
erlöst vom vorläufig gnädigen urteil
des arzts.
entleert sind die himmel
und hinter den wolken kein traum kein leben kein weg.
verloren die antwort auf längst vergessene fragen
und immer und immer von neuem verendet der vers
in der falle der finalität und…
(1999)
[105]
werkbesichtigung
sind nun schon alle keimwörter fortgespült?
entwortet fliesst der zeitstrom und leergelebt.
das lallkies kollert monoton und
klackt über schweigsamen grund. der aufruhr
verklingt als kunstgesang von verpasstem kampf.
die welt ein spiel mit längen. das drehbuch längst
und anderswo verfasst. man lebt sich
ein als statist mit bescheidner rolle.
was ist ist übermächtig. was ist beherrscht
das wollen wünschen fordern und noch den traum.
was ist ist machtgestanzter wortlaut:
aktengestützt und als recht verordnet.
jedoch die stadt verjüngt sich im muntren lärm
des logenvolks. es preist seinen chef vom dienst
der alles stets zum guten wendet:
so liebt das schicksal die auserwählten.
ich aber lieb die arbeit im flussbett mit
dem lallkies. zwar bleibt vieles gewendet stumm.
nur selten zeigt das zeitgeschiebe
ecksteine eines erhofften weltbaus.
die stadt lässt mich mein narrenwerk tun. sie liebt
die wörterwender: hartnäckig anspruchslos
tun sie was niemand braucht: das ehrt sie.
hoffnungslos frei geht mein atem trotzdem.
(1998)
[106]
môtier
das wasser ruht die sprache streicht es glatt
und macht dass es ein schöner spiegel bleibt
die möven schreien heiser wie man schreibt
ans andre ufer schreib ich eine stadt
ein kind steht halb im see halb im gedicht
und schleudert helle wassergarben mit
den armen hoch la pêche est interdite
dann hupt das schiff vor praz ins abendlicht
und gleitet in den text schön anzuschaun
mit seinem rettungsring für jede not
nur die erinnerung ist schon ein bisschen tot
und junge schwäne bleiben ewig braun
(1992)
[107]
reisender in sachen nichts
«…ein Dasein mit leichtem Gepäck, in der
Geborgenheit eines fortwährenden
Ausweichens…»
(Jürgen Theobaldy)
den zweck verlieren! ratlos bleiben
vertreiben den lockenden schein
kein ziel! nur staunend und zähe
die nähe befragen im windzug
im blindflug der rasenden fahrt
verwahrt wirkt das schweigen im morgen
verborgen in nischen des jetzt
zersetzt es den tag der nie schweigt
und zeigt auf verbrochene kreise:
weise sind nicht die fahrenden räder
jeder moment ziert sich neu
mit frei erfundenen heldenfeiern
von weltbefreiern nur an den rändern
ändern die zeiten nicht: immer ist da ein
dasein mit leichtem gepäck
(1998)